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Erschienen in:

01.01.2025 | Pflege Praxis

Sicher auf den Beinen

verfasst von: Siegfried Huhn

Erschienen in: Heilberufe | Ausgabe 1/2025

Expertenstandard Sturzprophylaxe Das Risiko zu Stürzen steigt ab dem 65. Lebensjahr und nimmt im weiteren Altersverlauf deutlich zu. Nur wenige dieser Ereignisse bleiben für die betroffene Person ohne gesundheitliche Folgen. Insbesondere treten weitere Bewegungsstörungen auf, die wiederum ein erhöhtes Sturzrisiko bewirken. In diesem Beitrag werden die Inhalte des Expertenstandards vorgestellt.
Bereits im Jahre 2006 hat die Expertengruppe des Deutschen Netzwerks für Qualitätssicherung in der Pflege (DNQP) den Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege vorgelegt und inzwischen zweimal aktualisiert. Die zweite Aktualisierung ist 2022 erfolgt. Die Expertengruppe definiert einen Sturz als „ein Ereignis, bei dem der oder die Betroffene unbeabsichtigt auf dem Boden oder auf einer anderen tiefer gelegenen Ebene aufkommt.“ Demnach handelt es sich auch um einen Sturz, wenn die Person aus dem Bett fällt, aus ihrem Stuhl rutscht oder aus dem Stehen heraus beim Vorbeugen auf ihr Bett fällt. Dabei muss die Person nicht zum Liegen kommen. Sie kann auch sitzen oder hocken. Oft wird von „Beinahestürzen“ gesprochen, wenn die Person strauchelt, aber den Sturz noch abfangen kann, oder durch eine Begleitperson verhindert wird. Solche „Beinahestürze“ sind ein Indiz für eine Gangunsicherheit, die eventuell Begleitung erfordert, gleichzeitig aber auch ein Hinweis darauf, dass Ressourcen vorhanden sind, einen Sturz durch schnelle Reaktion zu verhindern.

Wer ist sturzgefährdet?

Der aufrechte Gang des Menschen führt zu einer gewissen Instabilität, die durch Balancefähigkeit und schnelle Reaktion bei Gangstörungen kompensiert wird. Kommen zu der natürlichen Instabilität zusätzlich Störungen im Bewegungsablauf oder der Balancefähigkeit, entwickelt sich ein erhöhtes Sturzrisiko. Stürze sind altersabhängig. Kleinkinder müssen die nötigen Fähigkeiten zum Gehen entwickeln, und stürzen in der Lernphase entsprechend oft. Diese Stürze bleiben in den meisten Fällen unauffällig.
Anders verhält es sich bei Stürzen im höheren Lebensalter. Das Alter ist geprägt durch körperliche Veränderungen, die ein hohes Sturzrisiko beinhalten. Stürze im höheren Lebensalter bleiben seltener ohne Folgen für die körperliche Befindlichkeit. Besonders Frakturen im Schulterbereich oder im Oberschenkel treten häufig auf und führen oft in eine Pflegeabhängigkeit oder zu weiterem Pflegebedarf. Zusätzlich entwickeln viele ältere Menschen nach dem Sturzereignis eine Sturzangst, die aus Angst vor weiteren Stürzen zu einer selbstgewählten Mobilitätseinschränkung bis hin zu völliger Immobilisierung führen kann. Personen mit Sturzangst verändern oft ihr Bewegungsmuster, werden besonders vorsichtig und verlieren die nötige Dynamik, um sicher zu gehen und auf Hindernisse entsprechend zu reagieren.

Wie wird das Sturzrisiko erfasst?

In einer ersten Einschätzung erheben Pflegefachpersonen unmittelbar zu Beginn des Pflegeauftrags ein mögliches erhöhtes Sturzrisiko. Dabei werden die Prädiktoren (Vorhersagewerte) allgemein eingeteilt in Sturzvorgeschichte, Einschränkungen sensomotorischer Funktionen und der Balance, kognitive Beeinträchtigung und psychische Beeinträchtigung, insbesondere bei Depression. Die Risikoerhebung erfolgt durch Beobachtung und kann durch Fragen ergänzt werden (Tab. 1). Ergibt sich nach dieser ersten Einschätzung ein positiver Befund, soll eine vertiefte Einschätzung erfolgen. Hierzu werden zunächst weitere personenbezogene Risiken erhoben, die im Zusammenhang mit Stürzen als relevant gelten. Dies sind Fragen nach depressiven Verstimmungen, Kontinenzproblemen, Sehbeeinträchtigung und Hinweise auf Schwindel bei Positionswechsel oder beim Aufstehen.
Tab. 1:
Sturzerhebung
Personenbezogene Risiken
Signalfragen zur Einschätzung
Sturz- und Frakturvorgeschichte
Sind Sie in den letzten zwölf Monaten gestürzt?
Wenn ja: wie oft?
Haben Sie sich dabei verletzt?
Sturzangst
Haben Sie Angst oder Sorge zu stürzen?
Mobilitätseinschränkung in Kraft, Balance, Ausdauer, Beweglichkeit
Fühlen Sie sich unsicher beim Gehen?
Können Sie bestimmte Bewegungen nicht mehr ausführen?
Benutzen Sie ein Hilfsmittel (Gehstock, Gehstützen, Rollator)?
Kognitive Beeinträchtigung
Erscheint die Person besonders unkonzentriert?
Prüfen der Orientierung nach Zeit, Ort, Person, Situation
Medikation
Nehmen Sie gelegentlich oder regelmäßig Medikamente ein?
Wenn ja: Medikation prüfen, Medikamentenplan einsehen
Modifiziert nach DNQP 2022

Umweltbezogene Risiken

Als umweltbezogene Risiken werden solche Risiken bezeichnet, die von außen auf die Person und ihre Bewegungsfähigkeit einwirken. Untersuchungen haben gezeigt, dass Personen, die vorübergehend eine freiheitseinschränkende Maßnahme (FEM) erfahren, im Anschluss ein höheres Sturzaufkommen haben. Deshalb werden FEM grundsätzlich als Sturzrisiko angesehen und sollen als Risikominimierung nicht mehr angewendet werden.
Weitere umfeldbezogene Risiken sind die Lichtverhältnisse, insbesondere zu schwache Beleuchtung und Lichtquellen, die blenden. Auch zu schwache Kontraste oder nicht ausreichend erkennbare Muster auf dem Boden führen zu Irritationen und verändern die Trittsicherheit und das Gangbild und können zu Stürzen führen. Als Stolperfallen werden insbesondere Türschwellen gesehen, oder Gegenstände, die nicht immer auf dem Boden liegen. Schuhe sind ein weiteres Risiko, wenn sie nicht passend sind und das sichere Gehen erschweren.

Riskante Situationen

Aus Untersuchungen in der Geriatrie geht hervor, dass die meisten Stürze bei alten Menschen mit dem Aufstehen aus dem Sitzen, mit dem Herstellen von Balance und Standsicherheit, mit dem Losgehen und während der ersten Schritte und bei Richtungswechseln erfolgen. Deshalb muss das Umfeld so gestaltet sein, dass diese Situationen eine höhere Sicherheit im Bewegungslauf erhalten.

Ein Beispiel:

Margot K. ist bereits mehrfach gestürzt. Bisher sind die Stürze bis auf wenige blaue Flecken glimpflich verlaufen. Sie schildert, dass es für sie schwierig ist, nach längerem Sitzen aus ihrem Sessel hochzukommen. Manchmal braucht sie mehrere Anläufe, um aufstehen zu können und rutscht dabei manchmal zu Boden. Auch verspürt sie beim Aufstehen nach längerem Sitzen oft eine Art von Schwindel oder auch Schwäche in den Beinen. Dabei würde sie nach vorne fallen oder auch einfach wegknicken. Um zukünftig das Sturzrisiko zu senken, legen die Pflegepersonen auf die Sitzfläche ein festes Brett, um das Abstoßen von der Sitzfläche zu erleichtern. Neben den Sessel wurde zum Festhalten beim Aufstehen und zum Festhalten, bis sie Standsicherheit hat, ein zweiter Sessel gestellt. Die Möbel im Zimmer sind so platziert, dass Frau K. ziemlich geradeaus gehen kann, also nicht zwischen den Möbeln balancieren muss. Auch dienen die Möbel als Haltepunkte, um die Gangsicherheit zu gewähren. Im Bad sind mobile Haltegriffe angebracht, sodass sie bei Bedarf an anderen Stellen angebracht werden können. Bei der Toilette ist ein Haltesystem installiert, um das Aufstehen zu erleichtern und sich beim Anziehen festzuhalten. Seit diesen Maßnahmen ist es nicht mehr zu einem Sturz gekommen.

Verfahrensregel zur Sturzprophylaxe

Wegen des komplexen Sturzgeschehens und möglicher Prophylaxe wird durch die Expertengruppe empfohlen, dass Pflegeeinrichtungen eine Verfahrensregel entwickeln. Verfahrensregeln dienen der verbindlichen Festlegung von Zuständigkeiten und Vorgehensweisen bei der Prophylaxe und nach Sturzereignissen. Sie gelten als Struktur- und Verwaltungselement. Verfahrensanweisungen klären auch, welche Maßnahmen zum Kompetenzerwerb und -erhalt der beteiligten Pflegepersonen und sonstiger Akteure ergriffen werden. Sie sind für alle beteiligten Berufsgruppen unbedingt einzuhalten. Bei Handlungsanweisungen, oft als hauseigene Standards bezeichnet, werden generelle Aussagen über das Vorgehen zur Sturzprophylaxe getroffen oder - wenn nötig - zielgruppenspezifische Aussagen, etwa für Personen mit kognitiven Einschränkungen oder bei besonderen Erkrankungen.
Handlungsanweisungen unterstützen die Entscheidungsfindung bei der konkreten Planung von sturzprophylaktischen Maßnahmen. Sie sind flexibel zu handhaben und werden für die sturzgefährdete Person und die jeweilige Pflegesituation angepasst. Die letztendliche Entscheidung für die Maßnahmenplanung liegt in der Verantwortung der zuständigen Pflegefachperson.

Maßnahmen zur Sturzprophylaxe

Die Sturzprophylaxe beinhaltet Maßnahmen, die helfen können, das Sturzaufkommen zu verringern und die Folgen abzumildern. Die wesentlichen Merkmale liegen in der Förderung einer sicheren Mobilität und einer entsprechend bewegungsfördernden Umfeldgestaltung. Alle Maßnahmen sollen - soweit es möglich ist - in Absprache mit der sturzgefährdeten Person unter Berücksichtigung individueller Vorstellungen entwickelt werden.
Maßnahmen zur Sturzprophylaxe setzen sich aus Einzelinterventionen und unterschiedlichen, multimodalen Interventionen zusammen. Zu Einzelinterventionen zählen auch Maßnahmen, die sich aus dem gesunden Menschenverstand heraus ergeben, wie das Beseitigen von Stolperfallen, Bereitstellen von Hilfsmitteln, Haltegriffe, angemessene Beleuchtung und die fachliche Unterstützung zu sicheren Bewegungsabläufen. Speziellere Maßnahmen sind:
  • Körperliches oder motorisches Training
  • Bewegungsförderung
  • Kraft- und Balancetraining
  • Anpassung des Wohnumfeldes
  • Verbesserung der Sehfähigkeit
  • Niedrigbetten, Alarmsysteme
  • Sonstige technische Interventionen
  • Fußpflege (Podologie)
  • Hüftprotektoren, Rückenprotektoren, Sturzhelme
Multimodiale Interventionen kombinieren mehrere Einzelinterventionen. Häufig werden einzelne Angebote auch als Gruppenangebote gestaltet. Dazu zählen Bewegungsangebote und Kraft- und Balancetraining.
Als individuelle Maßnahmen gilt die Anpassung der Medikation in Absprache mit den behandelnden Ärzten, die Information, Schulung und Beratung von sturzgefährdeten Personen und ihren unmittelbaren Angehörigen, Beseitigung von Gefahren in der Wohnung beziehungsweise dem Umfeld der Person und das Bereitstellen von Hilfsmitteln und das Üben der Nutzung. Als Intervention gilt auch das Hinzuziehen anderer Akteure, wie Ärzte, Physio- oder Ergotherapeuten und Podologen.

Evaluation notwendig

Das Sturzrisiko und die durchgeführten Maßnahmen müssen bei Veränderungen der Lebenssituation der betroffenen Personen sowie in regelmäßigen Abständen reflektiert und auf ihre Wirkung hin evaluiert werden. Nach jedem Sturz soll ein Sturzereignisprotokoll angelegt werden, um möglichst die Ursache zu erfassen und Maßnahmen abzuleiten. Über die Protokolle sollen auch Daten über Sturzhäufigkeit, Sturzsituationen und sturzbedingte Verletzungen erhoben werden. Im Vergleich über längere Zeit kann so erfasst werden, ob die Maßnahmen längerfristig Stürze verringern.

Pflege einfach machen

Stürze sind ein natürliches Lebensrisiko. Dennoch lässt sich das Sturzrisiko verringern.
Als multifaktorielles und komplexes Geschehen braucht es zur Sturzprophylaxe neben wissenschaftlichen Belegen zu Einzelmaßnahmen und Komplexmaßnahmen den gesunden Menschenverstand, um das Sturzaufkommen zu verringern.
An der Planung und Umsetzung von Maßnahmen zur Sturzprophylaxe müssen alle Akteure beteiligt werden.

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Metadaten
Titel
Sicher auf den Beinen
verfasst von
Siegfried Huhn
Publikationsdatum
01.01.2025
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Heilberufe / Ausgabe 1/2025
Print ISSN: 0017-9604
Elektronische ISSN: 1867-1535
DOI
https://doi.org/10.1007/s00058-024-3757-4