Hintergrund
Nach Lawinenunfällen sind Stürze in Gletscherspalten die zweithäufigste Todesursache bei winterlichen hochalpinen Unternehmungen. Die objektive Gefahr durch schneebedeckte Gletscherspalten ist schlecht im Vorfeld auszumachen, und Unfälle unterliegen damit einer gewissen Heimtücke. Während für Lawinenunfälle in der Vergangenheit klare Algorithmen für Kameraden- und professionelle Rettung etabliert wurden, gibt es weder für die Prävention noch für die initiale Rettung bei einem winterlichen Sturz in Gletscherspalten derzeit evidenzbasierte Empfehlungen. Die vorliegende Metaanalyse wertet publizierte Unfalldaten zu Spaltenstürzen der vergangenen 20 Jahre nach Ursachen für Morbidität und Mortalität aus. Statistisch ableitbare Einflussgrößen zur Unfallprävention sowie zur effizienten Kameradenrettung werden identifiziert und ein Unfallalgorithmus vorgeschlagen.
Material und Methoden
Die systematische Literaturrecherche erfolgte mittels PubMed, Medline, manueller Referenzrecherche, Sichtung relevanter Veröffentlichungen in Jahresberichten, Unfallstatistiken, Verbandspublikationen und allgemein anerkannter Lehr- und Ausbildungsmitteln der europäischen Alpinen Verbände, der Alpinmedizinischen Vereinigungen, der alpinen Bergrettungsorganisationen sowie öffentlicher mit alpiner Sicherheit befasster Körperschaften.
Ergebnisse
Zur Identifikation von potenziell morbiditäts- bzw. mortalitätssenkenden Einflussgrößen wurden 4 Publikationen herangezogen und gut 600 literaturzugängliche Sturzereignisse verglichen. Der Evidenzgrad ist aufgrund unterschiedlicher Quellen und geringer Publikationszahl zwar eingeschränkt, dennoch repräsentieren die betrachteten Daten über weite Teile die Grundgesamtheit aller in der jeweiligen Region in einem Zeitraum beschriebenen Ereignisse. Die zu erwartende Spaltentiefe und beobachtete Sturztiefe erreichen in den Alpen kaum mehr als maximal 30–40 m (mittlere Sturztiefe 16 m). Von den betrachteten Unfällen in Gletscherspalten endeten etwa 15 % akut lebensbedrohlich und etwa 15 % letal. Zirka 75 % der letalen winterlichen Ereignisse sind Asphyxie, die verbleibenden ca. 25 % Traumata zuzuschreiben. Schädelverletzungen sind bedeutsam, Hypothermie ist offensichtlich untergeordnet. Nach dem Notruf konnten nur 30 % der Seilschaften verunglückte Kameraden selbst retten, während in lediglich 8 % der Unfälle schweres Gerät zur Befreiung aus der Spalte benötigt wurde. Die Autoren entwickelten einen auf quantitativen Rationalen basierenden Algorithmus zur zügigen Selbst- und Kameradenrettung im Rahmen einer evidenzgestützten Empfehlung zur Senkung der Mortalität bei Spaltenstürzen.
Schlussfolgerungen
Die Asphyxie stellt eine Besonderheit bei Unfällen im Winter im Rahmen des seilfreien Gletscherbefahrens dar. Der entwickelte Algorithmus berücksichtigt insbesondere das Abseilen zum akut asphyxiebedrohten Gestürzten im Rahmen der Kameradenrettung. Diese ist mittels Schweizer Flaschenzug mit Kugellagerrollen zu bewältigen und ermöglicht durch dessen mechanische Effizienz insbesondere die Rettung durch einzelne Retter, wie sie bei kleinen Seilschaften oder auf geführten Touren anzutreffen sind. Mechanische Gesamtwirkungsgrade von 80 % und neues ultraleichtes Material stützen diese Empfehlung. Darüber hinaus kann aufgrund der Auswertung der Unfälle das Vorhandensein mindestens zweier Seile von 30–40 m Länge im Rucksack des Vor- und Nachfahrenden, das ständige Tragen eines Helms und der griffbereite Einsatz geeigneter Bremsmittel zur Unfallprävention empfohlen werden.