Im Folgenden werden ausgewählte Fallbeispiele diskutiert, die die oben angeführten Überlegungen veranschaulichen. Das erste ausführliche Fallbeispiel fokussiert auf neue Gentherapie-Produkte zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie (SMA). Das ergänzende, zweite Fallbeispiel thematisiert weitere normative Facetten im Zusammenhang mit der Preissetzung von antiviralen Therapeutika für Hepatitis C.
4.3.1 Fallbeispiel: Spinale Muskelatrophie (SMA)
Für ein 2020 in Deutschland zugelassenes Gentherapie-Produkt zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie
(SMA) ist einer der – bis dato – höchsten bekannten Arzneimittelpreise angesetzt worden: Die einzelne Spritze des Produktes, eines Gentherapeutikums,
6 kostet hierzulande etwa zwei Millionen €. Indiziert ist das Medikament bei Kleinkindern mit der schwersten Form der SMA. Für diese Kinder geht der progressive Krankheitsverlauf damit einher, dass sie etwa nicht eigenständig sitzen können und sehr früh – in den ersten Lebensjahren – an der Erkrankung versterben. Erste Studienergebnisse zur Effektivität legen nahe, dass sich mit dem Gentherapeutikum eine Verbesserung der motorischen Fähigkeiten, Atmung und Schluckfähigkeiten erreichen lässt (Hofmann-Aßmus
2021).
Im Hinblick auf die genannten Kosten liegt die Frage nahe, wie sich der enorme Preis für ein einzelnes Medikament begründet. Ist es gerechtfertigt, in einem solidarisch finanzierten Versicherungssystem solche Summen für die Behandlung eines oder einer Einzelnen aufzuwenden oder ist es gar geboten? Bei der Suche nach Antworten dürften auch sogenannte Opportunitätskosten eine Rolle spielen: Mit dem gleichen Ressourceneinsatz wie für eine Spritze ist es möglich, etwa 40 Dialysepatient:innen für ein Jahr zu versorgen oder 250 schwere Hüftgelenksoperationen durchzuführen. Für andere hingegen wird sich die Frage nach der Finanzierung eines lebensrettenden Medikaments überhaupt nicht stellen: Wie kann der Preis zu hoch sein, wenn dadurch das Leben eines kranken Menschen deutlich verbessert, verlängert oder ein Kind sogar geheilt werden kann?
Beim konkreten Beispiel – der Einführung des Medikaments – steht aber nicht nur die (relative) Knappheit an finanziellen Ressourcen zur Diskussion.
7 Vielmehr wurde von Seiten des Herstellers auch ein Engpass bei der Produktion des Medikaments (absolute Knappheit) kommuniziert. Im Hinblick darauf erklärte sich der Hersteller bereit, ein definiertes Kontingent des neuen Arzneimittels per Losverfahren an Erkrankte zu verteilen: Weltweit sollten 100 Kinder, die bestimmte Antragskriterien erfüllen, ausgewählt werden und das Medikament kostenlos noch vor der Zulassung
erhalten. Dieses Vorgehen stellt eine in dieser Form noch nie dagewesene Art der Entscheidung über eine medizinische Therapie dar.
In diesem Konzept wird Knappheit auch dahingehend definiert, dass prioritär die Länder versorgt werden, in denen es bereits eine Zulassung für das Medikament gibt. Erst dann werden andere Länder weltweit identifiziert, in denen es die darüber hinaus zur Verfügung stehenden Medikamente zu verteilen gilt.
In diesem Beispiel stellt sich die Frage: Ist ein solcher Vorschlag ethisch akzeptabel?
Bei Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit ist es sinnvoll, gerade in der Medizin zuerst zu beantworten, inwieweit Knappheit tatsächlich absolut gegeben ist. Unter ethischen Gesichtspunkten ist dabei relevant: Gibt es z. B. unter der Maßgabe einer selektiven Kostenübernahme eine Priorisierung, die die angestrebte Gleichbehandlung unmöglich macht? Damit werden essentielle Fairness-Argumente nicht berücksichtigt, denn es erfolgt eine Bevorzugung von Erkrankten, für die eine Kostenübernahme (absehbar) sichergestellt ist. Hierbei ist durchaus in der Bewertung relevant, ob es sich um eine offene (explizite) Bevorzugung oder um eine verdeckte (implizite) Benachteiligung handelt. Im vorliegenden Fall konnten sich jene von der Erkrankung Betroffene, denen der Zugang über ein Refinanzierungsangebot nicht offenstand, für das Härtefallprogramm „bewerben“.
Sie sind also im Vergleich a priori benachteiligt. Die Frage stellt sich, welche Gründe dazu führen und wer diese zu verantworten hat? Relevant sind dabei Gesichtspunkte, die sich auf das Zulassungsverfahren beziehen, die die Organisation der Finanzierung der Arzneimittel betreffen und die Frage, inwieweit anderweitige regulatorische Rahmenbedingungen bestehen, die eine faire Distribution
auch in den jetzt benachteiligten Ländern bereits ermöglichen.
8 Liegt die Begründung in zeitlich unterschiedlichen Zulassungsbedingungen auf Seiten der Hersteller (Zeitpunkt der Antragstellung), verantworten diese die Ungleichheit und müssen eventuelle Nachteile für Betroffene selbst ausgleichen. Sind die Zulassungsbehörden für zeitliche Differenzen verantwortlich, kommt man voraussichtlich zu einem anderen Schluss, wobei hier ethische Abwägungen unter Umständen mit juristischen Fragestellungen (z. B. Haftungsfragen) konkurrieren.
Verteilungsfragen richten sich immer an die Gerechtigkeit: Hierzu geben die Organisationsstrukturen im Gesundheitswesen, die sich international stark unterscheiden, grundlegende Antworten. Dabei gibt es einen übergeordneten Konsens, der nahelegt: Gesundheitsversorgung soll so realisiert werden, dass Diskriminierung
nach Geschlecht, Religion, Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit oder sozialem Status weitestgehend ausgeschlossen ist (Norheim
2016). Dagegen finden sich unterschiedliche Auffassungen z. B. bei Fragen nach dem Alter als Differenzierungskriterium. Bereits an diesem Punkt erkennt man die Abhängigkeit der realen Distribution von Gesundheitsgütern von den jeweils zugrundeliegenden ethisch-moralischen Auffassungen einer Gesellschaft. Hier gibt es explizit keinen globalen Konsens (Nagel und Lauerer
2016).
Mit Blick auf das vorgestellte Härtefallprogramm lassen sich folgende Schlussfolgerungen ableiten:
Zwar finden sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung Theorien der Gerechtigkeit, die das Los als ein Verfahren in Knappheitssituationen und dahingehend diskutieren, dass die Zufallsauswahl zu einem adäquaten Verteilungsergebnis führen kann. Allerdings besteht im wissenschaftlichen Diskurs weitgehend Konsens darüber, dass das Los alleine keine gerechte Zuteilung knapper Ressourcen darstellt. In der Medizin etablierte Kriterien – wie z. B. Dringlichkeit, Schweregrad der Erkrankung, individueller Bedarf aufgrund fehlender Alternativen und ggf. auch die Erfolgsaussicht der Therapie – bleiben in dem hier beschriebenen Vorgehen unberücksichtigt. Solche Kriterien sollten – zum Teil objektiv bewertet und zum Teil auf die Patient:innenperspektive rekurrierend – Berücksichtigung finden. Dafür sind im konkreten Kontext spezifische und messbare Indikatoren festzulegen und untereinander zu gewichten.
Fragen zur adäquaten Preisbildung beschäftigen die Gesundheitsökonomik seit deren Etablierung. Im interdisziplinären, wissenschaftlichen Diskurs wurde dabei zunehmend deutlich, dass eine sinnvolle Allokation von Mitteln in einem so reglementierten Bereich der Daseinsvorsorge zuvorderst dem medizinischen Bedarf folgen muss. Dies bedeutet, dass sich eine primäre Fokussierung auf Gewinne, wie sie etwa im produzierenden Gewerbe oder in der klassischen Dienstleistungsbranche üblich ist, aus prinzipiellen Überlegungen heraus verbietet. Mit der zunehmenden Ökonomisierung in der Gesundheitswirtschaft sind Investor:innen auf einen Bereich gestoßen, der mit finanziell attraktiven Entwicklungen, wie einer älter werdenden Gesellschaft, zunehmenden chronischen Erkrankungen und dem medizinisch-technischen Fortschritt, eine Anziehung ausübt.
Das dieser Entwicklung zugrundeliegende Streben diskreditiert mehr als die dahinterstehenden Unternehmen. Es stellt den gesamten Prozess einer sich verbessernden Lebenswelt durch den medizinischen Fortschritt infrage. Denn Fortschritt setzt voraus, dass möglichst alle Betroffenen an den Erkenntnissen und Entwicklungen teilhaben können. Anstatt wie im genannten Beispiel eine Lotterie, braucht es die breite öffentliche Debatte über eine faire Verteilung von Ressourcen in der Medizin.
Auch wenn die individuellen Therapiekosten als sehr hoch anzusetzen sind, muss eine Erstattung weder ökonomischen noch ethischen Grundsätzen widersprechen. Prinzipiell sind Menschen auch bereit, weniger effektiven aber hochpreisigen Interventionen einen hohen Stellenwert beizumessen, wenn die Intervention auf die Behandlung einer schwerwiegenden Krankheit abzielt (Nord et al.
1999). Die von der Schwere der Erkrankung abhängige Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung ist in diesem Sinne ein Element der Ausgestaltung fairer Preise. Jedoch bedeutet eine gegebene gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft im Umkehrschluss nicht, dass ein Preis auch gerecht(fertigt) ist. Die Zahlungsbereitschaft stellt in einem solidarfinanzierten Gesundheitssystem also eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung zur gerechten Preisfindung dar: Dies wird offensichtlich, wenn ein Solidaritätsgefühl mit Leidenden zur Erzielung von Gewinnen ausgenutzt wird. Ebenso wird dem Alter eine ethische Bedeutung zugemessen: Nach der sogenannten „Fair-Innings
“-Argumentation wäre es in diesem Sinne geboten, knappe Ressourcen aus Fairnessgründen primär Jüngeren, die von einer fairen Lebensspanne noch am weitesten entfernt sind, zukommen zu lassen (Williams
1997).
4.3.2 Fallbeispiel: Hepatitis C
Hochpreisigkeit von Arzneimitteln bemisst sich nicht allein an den Kosten für eine Einzeldosis. Vielmehr kann auch ein kosteneffektives Medikament in Verbindung mit hohen Fallzahlen zu Finanzierungslücken führen. Ein Beispiel stellt die Entwicklung von antiviralen Medikamenten für die Behandlung von Hepatitis C dar.
Weltweit sind ca. 71 Mio. Menschen an einer chronischen Hepatitis-C
-Infektion erkrankt, wobei die Krankheit rund 400.000 Tode jährlich verursacht (WHO
2020). In den westlichen Ländern gehört eine Hepatitis-C-Infektion zu den Hauptursachen für die Entwicklung einer Leberzirrhose sowie eines hepatozellulären Karzinoms und ist eine der zentralen Indikationen für eine Lebertransplantation (Zignego und Craxì
2008). Die als äußerst wirksam beschriebenen Mittel zur Hepatitis-C-Behandlung besitzen bei einer Behandlungsdauer von nur 8 bis 12 Wochen eine Heilungsrate von über 95 % und verursachen weniger Nebenwirkungen als ihre weniger wirksamen Vorgänger (WHO
2020). Allerdings hat der hohe Preis dieser Medikamente in vielen Ländern die nachhaltige Finanzierung
der neuen Therapie infrage gestellt (Iyengar et al.
2016). In diesem Kontext konnte die therapeutische Option nicht allgemein zur Verfügung gestellt werden: So wurde z. B. in Brasilien und initial auch in der Schweiz der Zugang auf Patient:innen mit schweren Verlaufsformen beschränkt (WHO
2016). Zusätzlich war der Zugang in US-amerikanischen Medicaid-Programmen an unterschiedliche Bedingungen geknüpft (Barua et al.
2015): u. a. an eine andauernde Alkohol- und Drogenabstinenz oder an die Behandlung bzw. Beratung durch eine fachärztliche Person für Infektionskrankheiten oder Gastroenterologie.
Obwohl die Arzneimittel nach unseren Maßstäben als kosteneffektiv gelten, ist in vielen Ländern bei umfassender Einführung nicht von einer – zumindest kurzfristig – nachhaltigen Finanzierbarkeit auszugehen: Da die Behandlung einer Vielzahl an Erkrankten in kurzer Zeit angeboten werden müsste, würde es zu signifikanten Ausgabensteigerungen kommen (Craxi et al.
2016).
In der Gesamtschau kann davon ausgegangen werden, dass die hohen Preise den Zugang zur Versorgung erschweren und damit auch eine signifikante Barriere zur vollständigen Eliminierung des Virus darstellen (Craxi et al.
2016). Insbesondere in Pflichtversicherungssystemen mit einem hohen Selbstbehalt für Arzneimittel besteht die Gefahr, dass der universelle Zugang zu medizinischen Leistungen, vor diesem Hintergrund, nicht sichergestellt werden kann. Dies ist besonders bei Arzneimitteln gegen Infektionskrankheiten – wie Hepatitis C – von Bedeutung, da
sozioökonomisch vulnerable Gruppen oftmals nicht nur keinen vollständigen Versicherungsschutz genießen, sondern in der Regel auch ein höheres Infektionsrisiko haben (Vernaz et al.
2018).