3.1 Einleitung
Die Pharmabranche befindet sich auf dem Höhepunkt eines
biotechnologischen Paradigmenwandels, der in der Entdeckung des menschlichen Genoms seinen Ausgangspunkt nahm und im Aufstieg der molekularen Medizin seine Apotheose erlebt (Fischer und Breitenbach
2020). Molekularmedizinische Fortschritte in der Diagnose und Behandlung schwerwiegender Erkrankungen versprechen die Realität einer „personalisierten Medizin“ (Hamburg und Collins
2010) oder auch „stratifizierten Medizin“ (Thürmann
2015). Hierzu gehört nicht nur der (Einmal-)Einsatz von biotechnologisch angepassten Wirkstoffen für typisierte Patientengruppen (sog. Advanced Therapy Medicinal Products, ATMPs), sondern ebenso die Entwicklung und Anwendung gentechnologisch fabrizierter Medikamente für seltene Erkrankungen (sog. Orphan Drugs) und große Volksleiden (wie z. B. Krebs).
Mit den in Zukunft zu erwartenden (astronomisch anmutenden) Preissteigerungen für molekularmedizinisch entwickelte Arzneimittelinnovationen (Lohmüller et al.
2019) droht der sog.
Budget Impact beim Übergang ins „Massengeschäft“ die öffentlichen Versicherungshaushalte der Arzneimittelversorgung zu sprengen. Insbesondere das Preisniveau auf dem global dominanten US-amerikanischen Pharma-Markt für Biologika und andere Arzneimittelinnovationen gleicht mittlerweile einer exponentiell steigenden Kurve (OECD
2018a;
2018b). Das bringt die Ausbalancierung universeller Zugänglichkeit zu innovativen Arzneimitteln und deren (Re-)Finanzierbarkeit aus Mitteln der (öffentlichen bzw. kollektiven) Krankenversorgung in ein konfliktgeladenes Ungleichgewicht.
Im folgenden Beitrag wird in pointierter Irritation über die gesundheitspolitische Reformdiskussion um Kosten-Nutzen-Analysen, Risk-Sharing- oder auch Cost-Sharing-Modelle (SVR Gesundheit
2014; Greiner et al.
2020) der
Diskurs der heterodoxen Ökonomik um die Auswirkungen renditemaximierender Wachstumsstrategien börsennotierter Pharmaunternehmen rekonstruiert. Die heterodoxe Ökonomik verspricht unorthodoxe Erkenntnisse und die Entdeckung neuer gesundheitspolitischer Pfade im (transnationalen) Dickicht der politischen Regulierung von Arzneimittelmärkten.
3.2 Heterodoxe Ökonomik
Die heterodoxe Ökonomik
ist aus einer
Kritik des neoklassischen Paradigmas entstanden und vor allem im angloamerikanischen Diskurs institutionell verankert (Lavoie
2015; Jo et al.
2018). Von Bedeutung für die Regulierung von Arzneimittelmärkten ist neben der Mikroökonomik der Haushalts- und Produktionstheorie in mesoökonomischer Hinsicht die institutionell-organisatorische Realität des kapitalistischen Unternehmens und seines netzförmig organisierten Umfeldes (Lazonick
1990; Mazzucato und Dosi
2006; Mazzucato
2014).
Grundlegend für die heterodoxe Mikroökonomik ist die Annahme strategischen Handelns und finanzieller Ungewissheit bei unternehmerischen Entscheidungen unter fundamentaler Unsicherheit. Sie geht davon aus, dass Unternehmen daher vor allem auf die Ausweitung ihrer Marktmacht und ihres Umsatzwachstums bzw. ihrer Marktkapitalisierung zielen (Lavoie
2015; Baranes
2016; Lee
2018). Heterodoxe Ökonomen und Ökonominnen lehnen einige fundamentale Prämissen der neoklassischen Orthodoxie ab.
Als die beiden Hauptmängel der neoklassischen Mikroökonomik
identifiziert die heterodoxe Ökonomik, dass zum einen die Marktstrategien von Unternehmen nicht empirisch analysiert würden. Zum anderen werde der notwendige Zwang, über finanzielle Ressourcen zu verfügen, im Markthandeln von Unternehmen übergangen (Lazonick
2015; Lavoie
2015). Die Neoklassik behandle Unternehmen wie eine „
Black Box“ effizienter Allokation von Produktionsfaktoren und unterstelle die Realisierung des möglichst günstigen Produktpreises (Lavoie
2009,
2015).
Im Gegensatz zum neoklassischen Modell der vollständigen Konkurrenz gehen heterodoxe Mikroökonom:innen davon aus, dass Unternehmen eigenständig Preise gestalten können. Diese Preispolitik wird möglich durch die ökonomische Marktmacht
der Unternehmen mit Preisführerschaft, die auf niedrige Preiselastizitäten der (differenzierten) Nachfrage zurückgeführt werden kann (Lavoie
2015; Lee
2018).
Die heterodoxe Ökonomik ist schließlich der Auffassung, dass Innovationsprozesse (neue Produkte und Produktionsverfahren) für die Dynamik und Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus wesentlich sind. Der scheinbare Konsens mit der Orthodoxie wird jedoch dahingehend modifiziert, dass Innovationsprozesse als kollektives Gut betrachtet werden und in nationale Innovationssysteme eingebettet sind.
Der Kollektivgutcharakter von Innovationen komme vor allem darin zum Ausdruck, dass in sozialen Prozessen zwischen Unternehmen, Universitäten und staatlichen Stellen ein „
kollektives Wissen“ über die Produktentwicklung entstehe, das in systemischer Weise zur Marktgängigkeit eines innovativen Produktes führe, während andere scheiterten (Lazonick
1990,
1993; Mazzucato
2014).
Wesentlich für die Entwicklung und Entstehung von marktgängigen Innovationen werden öffentliche Investitionen des Staates in die Wissenschafts- und Technologieinfrastruktur nationaler Innovationssysteme erachtet. Hier wird von heterodoxen Ökonomen und Ökonominnen das Konzept des
Entrepreneurial State (Mazzucato
2014) in die Diskussion gebracht. Staatliche Subventionen und Steuererleichterungen förderten zudem die Innovationskraft des privaten Sektors (Lazonick und Mazzucato
2013; Lazonick
2015; Tulum und Lazonick
2019).
3.3 Zur Wertbestimmung von Arzneimittelinnovationen
Aus einem heterodoxen Blickwinkel enthält die Frage nach den Ursachen von hochpreisigen Biologika mehrere Unteraspekte. Während die heterodoxe Innovationsökonomik auf die Bedeutung der staatlichen Grundlagenforschung für den (späteren) Markterfolg innovativer Arzneimittel (und anderer Innovationen) verweist und eine „Sozialisierung der Kosten“ und eine „Privatisierung der Profite“ von kollektiv erschaffenen Arzneimittelinnovationen beklagt, verweist die heterodoxe Unternehmenstheorie auf die Strategien der börsenorientierten Maximierung des Shareholder-Value (MSV) einerseits und der Verwandlung von großen Pharma-Unternehmen in spezialisierte Quasi-Hedge-Fonds andererseits als zwei Erklärungsansätze für die exorbitanten Preise biotechnologisch hergestellter Arzneimittelinnovationen.
3.3.1 Die Entwicklung von F & E – Ausgaben und die Rolle des Staates
Aus heterodoxer Perspektive interessiert, wie hoch die von den großen Pharmaunternehmen aufgewandten F & E-Ausgaben
sind und welchen Beitrag diese für die Entwicklung von wirksamen und sicheren neuen Arzneimitteln spielen. Während orthodoxe Gesundheitsökonomen diesem Problem begegnen, indem sie von der wettbewerbsinduzierten Produktionseffizienz funktionaler Wettbewerbsordnungen und der Innovationseffektivität der F & E-Ausgaben von „Big Pharma
“ ausgehen und sich folglich auf die nachträgliche ordnungspolitische Regulierung von angebots- und nachfragebezogenen Marktbedingungen des Endkonsums konzentrieren (z. B. Wille et al.
2008; Wille
2014; SVR Gesundheit
2014), beharren heterodoxe Ökonomen auf der Öffnung der „Black Box“ (Angell
2005) der Bedeutung und Ausgestaltung der F & E-Ausgaben in der Arzneimittelindustrie als einem weiteren Ansatzpunkt zur Kostenkontrolle (Orsenigo et al.
2006; Mazzucato
2014,
2019).
Nicht nur in Deutschland, auch in der Europäischen Union und der OECD weist der pharmazeutische Sektor regelmäßig die höchsten Ausgaben für Forschung und Entwicklung
und Investitionsanteile im Branchenvergleich auf (OECD
2018b; BPI
2020). In globaler Hinsicht stellen die USA den Löwenanteil der Forschungs- und Entwicklungsausgaben und den wichtigsten Standort für klinische Studien dar, auch wenn das über die konkreten Forschungs-, Entwicklungs- und Wertschöpfungsketten spezifischer Arzneimittel wenig aussagt (BPI
2020; Grömling und Kirchhoff
2020; Watzek
2020).
Aus einer industrie- und innovationspolitischen Perspektive betrachtet praktizieren die großen Pharmaunternehmen in gewisser Weise ein „
Regime-Shopping“, indem sie eingebettet in nationale oder auch transnational überformte staatliche Innovationssysteme projekt- und produktspezifische Forschungs- und Entwicklungsnetzwerke zur Wertschöpfung innovativer Arzneimittel nutzen (Mazzucato und Dosi
2006; Lazonick und Mazzucato
2013; Rikap
2019). In einer globalisierten Branche ist ihnen diese Freiheit kaum anzulasten, wird diese doch als Quelle einer effizienten Arzneimittelproduktion angesehen (Habbe und Wille
2015; Watzek
2020).
Es ist davon auszugehen, dass es nicht nur eine transnational differenzierte Preispolitik (Danzon und Towse
2003; Danzon
2008; Danzon et al.
2015; Hessel
2019), sondern auch entsprechend ausgerichtete Strategien zur Nutzung vielfältiger
kompetitiver Vorteile von transnationalen Forschungsnetzwerken und staatlicher Grundlagen- und Forschungsfinanzierung bei der Entwicklung von innovativen Arzneimittelprodukten durch multinationale Pharma-Unternehmen gibt (Salter und Faulkner
2011; Mazzucato
2014; Rikap
2019). Dabei kommt der
Europäischen Union durch ihre komplementäre Zuständigkeit für Forschungsförderung im biomedizinischen Bereich einerseits und ihre prioritäre Bedeutung bei der Zulassung biomedizinisch hergestellter Arzneimittel und Impfstoffe andererseits eine nicht zu unterschätzende regulatorische Rolle zu (Kröll
2017; Ludwig
2019).
Die
heterodoxe Schlüsselfrage ist, ob die hohen Markteinstiegspreise
der biopharmazeutischen Arzneimittelinnovationen
den öffentlich finanzierten Beitrag zur Generierung erheblicher Gewinnmargen dieser Produkte adäquat berücksichtigen (Mazzucato
2019; Cleary et al.
2020). Die vielfach bestätigte Ausgangsthese dabei ist, dass die großen Pharmaunternehmen vor allem für die Organisation und Finanzierung der klinischen Entwicklungsphasen eines Arzneimittels zur Markteinführung von Bedeutung sind, während staatliche und quasi-staatliche Akteure wesentliche finanzielle und wissensbezogene Grundlagen der Arzneimittelinnovationen vor den klinischen Studien liefern, aber auch diese zum Teil erheblich finanziell unterstützen (Angell
2005; Mazzucato und Roy
2017; Roller
2019).
Im Gegensatz zum orthodoxen Ansatzpunkt einer Analyse aggregierter Daten über Arzneimittelinnovationen, Forschungs- und Entwicklungsausgaben fokussiert die heterodoxe Ökonomik auf einzelne Arzneimittel, um die Prozesse der Forschung, Entwicklung, Bepreisung und Markteinführung detailliert nachzuzeichnen (Sood et al.
2021). Die „Black-Box“ wird zu öffnen versucht. Insofern steht die heterodoxe (Pharma-)Ökonomik der Idee einer evidenzbasierten Medizin deutlich näher als ihr orthodoxer Konterpart.
Die heterodoxe Ökonomik kritisiert, es gebe eine
ungleiche Arbeitsteilung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor, indem zum einen weder die grundlagenbasierten Forschungsausgaben bei der Marktpreisgestaltung noch die staatlichen Innovationskostenzuschüsse reflektiert würden, die oft an kleinere Start-up-Unternehmen, zumeist als Ausgründungen von Universitätsinstituten ins Leben gerufen, geflossen seien. Zum anderen würden die Kosten von gescheiterten Innovationsprozessen, die im Prozess des
trial and error unvermeidlich seien, über den staatlichen Haushalt aufgefangen. In der Konsequenz leide das nationale Innovationssystem, indem die Kosten sozialisiert und die Gewinne privatisiert würden (Lazonick und Mazzucato
2013; Cleary et al.
2020).
3.3.2 Marktmacht und Patentrechte
Aus der Perspektive gewinnorientierter Unternehmen ist die Verfügung über und die Erhaltung von Patenten auf zentrale Bestandteile von Erfindungen von erheblicher Bedeutung für die Etablierung und Markteinführung von innovativen Produkten (Raasch und Schöffski
2008; Riedl et al.
2020) wie auch der auf Lizenzgeschäften beruhenden Geschäftsentwicklung (Breitenbach und Lewis
2020). In der orthodoxen Ökonomik ist das temporäre Zugeständnis von innovationsbezogenen Monopolsituationen als Mechanismus anerkannt, der es Unternehmen ermöglicht, ihre langwierigen Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen über einen hohen Preis zu refinanzieren (Breyer et al.
2005; Cassel und Ulrich
2016). Die Verleihung von Patentrechten
sei insofern auch notwendig, weil von der Entdeckung neuer Wirkstoffe bis zur Einführung in den Markt eine lange Zeit vergehe und nicht jedes patentierte Element sich letztlich auch in umsatzgenerierende „Blockbuster“ verwandle (Breyer et al.
2005; Breitenbach und Fischer
2020).
Die heterodoxe Ökonomik unterstreicht die Bedeutung von (Produkt- und Prozess-)Innovationen für die dynamische Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, sieht jedoch die Vergabe von Patenten und die mit ihnen gegebenen Anreize zur Ausweitung von Patentlaufzeiten weitaus kritischer (Mazzucato
2019; Christophers
2020). Gestützt auf empirische Studien zur Patentierung
und Markteinführung von Arzneimittelinnovationen zeigt sie, dass die Patentierung von Wirkstoffen, Anwendungsgebieten, Darreichungsformen und Herstellungsverfahren (Angell
2005; Walsh et al.
2006) einen Widerspruch in sich tragen. Einerseits werde dem Patentinhaber für eine begrenzte Zeit ein ausschließliches Nutzungsrecht zugestanden, andererseits verlange die staatliche Gewährung dieses Monopolrechts die Offenlegung zentraler Informationen, damit nach Auslaufen des Patentrechts die gesamte Wirtschaftsbranche von dem neuen Wissen profitiere (Mazzucato
2019). Die Marktmacht großer Unternehmen ziele darauf, diese Offenheit und Einladung für preissenkenden Imitationswettbewerb zu verhindern. Die
Preisführerschaft soll – mit anderen Worten – erhalten bleiben.
Im Arzneimittelsektor besteht neben dem eigentlichen Patentschutz noch ein
Quasi-Patentschutz, der in der zeitlich dem eigentlichen Patentschutz nachgelagerten Verleihung exklusiver Vermarktungsrechte durch die Zulassungsbehörde(n) besteht und eng an die patentrechtlichen Bestimmungen angelehnt ist (Schamp et al.
2008; Kröll
2017; Ludwig
2019; Breitenbach und Fischer
2020). Die Aufrechterhaltung von monopolartig bestimmten hohen Arzneimittelpreisen über die aktive Gestaltung von Nachahmerprodukten aus dem eigenen Haus, für die weiter exklusive Patent- und Vermarktungsrechte bestehen, oder die patentierte Neuzulassung von (alten) Arzneimittel für andere Indikationen bzw. Darreichungsformen bzw. mit geringen molekularmedizinischen Modifikationen der Wirkstoffe (sog. „Me-too-Arzneimittel
“) verhindere einen frühzeitigen Markterfolg von Generikakonkurrenzprodukten (Feldman und Frondorf
2017). In Tab.
3.11 sind einige besonders markante Marktereignisse der letzten Dekade aufgeführt.
Tab. 3.1
Auswahl einiger Beispiele der strategischen Translokation und Prolongation des Patentschutzes von umsatzstarken Arzneimitteln durch große Pharmaunternehmen
Antra (Omeprazol), Nexium (Esomeprazol)/AstraZeneca | Durch eine minimale Molekülvariation wurde aus dem patentabgelaufenen Antra (Wirkstoff Omeprazol) vom Hersteller AstraZeneca mit Nexium (Wirkstoff Esomeprazol) ein neues Patentarzneimittel auf den Markt gebracht | Prolongation des Patentschutzes durch Nachahmung |
MabCampath, Lemtrada (Alemtuzumab)/Genzyme (Sanofi) | Der Wirkstoff Alemtuzumab war als Krebsmedikament MabCampath gut wirksam, aber nur für eine kleine Patientengruppe geeignet. Es wurde von Genzyme vom Markt genommen und als Lemtrada gegen die Multiple Sklerose zu einem vielfach höheren Preis wieder neu patentgeschützt vermarktet | Translokation des Patentschutzes durch Indikationsvariation |
Diverse ACE-Hemmer/diverse Anbieter | Allein die Zahl von 16 zugelassenen Wirkstoffen aus der hochverordneten Gruppe der blutdrucksenkenden ACE-Hemmer von den unterschiedlichen Herstellern zeigt deren Imitations-Kreativität bei Massenmärkten | Prolongation des Patentschutzes durch Wirkstoffvariationen |
Beloc, Beloc-ZOK (Metoprolol)/Astra Zeneca | Für das nicht mehr patentgeschützte Beloc (Wirkstoff Metoprolol) wurde eine optimierte Darreichungsform mit geringen Vorteilen als Beloc-ZOK neu patentiert, ebenfalls vom Hersteller Astra Zeneca | Prolongation des Patentschutzes durch Darreichungsvariation |
Die hohen Anreize des Patentrechts für wenig innovative Nachahmerprodukte oder die Ausweitung der Zulassung alter, nicht mehr patentgeschützter Arzneimittel auf neue Indikationen oder spezifische Subgruppen reduzierten darüber hinaus auch die Innovativität der Pharmaindustrie, weil sie nicht (mehr) in die Entwicklung neuer chemischer oder biomedizinischer Produkte investieren würde, die epidemiologisch und klinisch von Bedeutung seien (Angell
2005; Mazzucato und Dosi
2006; Mazzucato
2014,
2019). Kein Wunder, dass sich daher in der OECD-Staatenwelt die sog. „
Vierte Hürde“ als regulativer Anreizmechanismus in der Arzneimittelpolitik etabliert hat (Panteli et al.
2015,
2016), der auf den evidenzbasierten Zusatznutzen von neuen Arzneimitteln bzw. Wirkstoffen als effektives Marktzugangskriterium abhebt, von den forschenden Pharmaunternehmen jedoch abgelehnt wird (VFA
2014).
3.3.3 Börsenorientierte Wachstumsstrategie
Der Kern der börsenorientierten Wachstumsstrategie, die auch als „
Finanzialisierung des Unternehmens“ (Faust und Kädtler
2018) bezeichnet wird, besteht in der Ausrichtung der Geschäftsstrategie auf einen möglichst hohen Unternehmenswert, dessen quartalsweise Bestimmung durch die Kurswerte gehandelter Aktienpapiere durch institutionelle Investoren (Banken, Versicherung, Pensionsfonds usw.) eine strategische Kurzfristorientierung auslöst. Eine Kurswertsteigerung ermöglicht geringere Re-Finanzierungsaufwendungen für geplante Investitionsprojekte (gute Bonität), eine Erhöhung der Attraktivität der Aktien für kapitalkräftige Investoren (hoher Investment-Grade) und vor allem eine Steigerung der Managementgehälter, die oft einen hohen Anteil an Aktienoptionen beinhalten. Die Auszahlung von Dividenden an Aktienbesitzer steht dabei zwar oft im Konflikt mit den kurzfristigen Anlagestrategien von institutionellen Investoren, die auf spekulative Kursgewinne setzen, ist aber ebenso wie ihr Konterpart Bestandteil des Shareholder-Value-Instrumenten-Portfolios (Engelen
2008; Heires und Nölke
2013; Lavoie
2015).
Die Finanzialisierung vor allem der großen US-amerikanischen pharmazeutischen Unternehmen zeige sich dabei in drei Trends, die alle auf die strategische Steigerung des Unternehmenswertes abheben: i) der Bilanzexpansion zur Ermöglichung kurzfristig einsetzbarer Aktiva und Passiva, ii) der Bedeutungszunahme von
immateriellen Vermögenswerten („intangible assets“) und iii) der Ausschüttung immer größerer Gewinnanteile und liquider Finanzmittel an institutionelle Investoren und Vorstandsetagen („Shareholder“) (Noweski
2016; Fernandez und Klinge
2020; Klinge et al.
2020).
Seit der Weltfinanzkrise 2008 ff habe sich der Anteil kurzfristiger Aktiva und Passiva, die eine höhere Liquidität bedeuteten, in den Bilanzen der großen Pharmaunternehmen erhöht. Die höhere Finanzliquidität sei jedoch nicht nur für F & E-Ausgaben genutzt worden, sondern verstärkt auf die Ausschüttung der Gewinne an Aktienbesitzer und vor allem auf den Rückkauf eigener Aktien zurückzuführen, um den börslichen Unternehmenswert zu stabilisieren oder gar zu steigern. Dabei sei der Anteil der Auszahlungen im Verhältnis zum Anteil der Kapazitäts- sowie der Forschungs- und Entwicklungsausgaben seit 2009 stark angestiegen. Schließlich habe der Anteil der immateriellen Vermögenswerte in den Bilanzen der großen Pharmaunternehmen zugenommen, was durch die Verfügung über Patente, Markenrechte und Lizenzen ihre Marktmacht gegenüber kooperierenden und konkurrierenden Unternehmen erhöht habe (Montalban und Sakinc
2013; Baranes
2016; Lazonick et al.
2017; Fernandez und Klinge
2020; Klinge et al.
2020).
Insgesamt – so die Schlussfolgerung der heterodoxen Ökonom:innen – würden die dargestellten Finanzialisierungsstrategien großer Pharmaunternehmen zunehmend die Geschäftslogik von Finanzakteuren nachahmen, weshalb manche Autoren die Geschäftsmodelle der großen Pharmaunternehmen sogar mit spezialisierten
Hedge-Fonds vergleichen (Montalban und Sakinc
2013). Deren Geschäftsmodell besteht bekanntlich darin, dass mittels immenser kreditbasierter Finanzhebel produzierende Unternehmen zum Zweck der Erzielung hoher Kapitalerträge für die Finanzinvestoren und Shareholder der Hedge Fonds
gekauft und nach Steigerung des Börsenwerts wieder verkauft werden (Deutscher Bundestag
2002; Huffschmid
2002; Valdez und Molyneux
2015). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nicht wenige große börsenorientierte Pharmaunternehmen zu großen Teilen im Besitz von Hedge-Fonds und anderen institutionellen Investoren (Pensionsfonds, Staatsfonds) sind (Roller
2019).
2
Die großen Pharmaunternehmen eigneten sich – so die Kritik der Heterodoxie
– aufgrund ihrer Marktmacht
zum einen via Patente, Markenrechte und Lizenzen die Produkte der öffentlich finanzierten Grundlagenforschung an, die oft von kleinen innovativen Start-up-Unternehmen – selbst oft kommerzialisierte Ausgründungen von Universitäten – erbracht werden, und konzentrierten sich zum anderen mit ihren Forschungs- und Entwicklungsausgaben auf die Organisation und Finanzierung von global distribuierten klinischen Studien. Diese Finanzierung erfolge kreditfinanziert über Risikokapital und werde dann über Börsengänge erfolgreicher Start-up-Unternehmen, die ihr „Pipeline“-Produkt als marktgängig darstellten, refinanziert (Andersson et al.
2010; Lazonick und Tulum
2011; Fleischmann et al.
2019).
3
Im Endeffekt würden die großen Pharma-Unternehmen über die Funktion renditeorientierter Kapitalgeber für kleine Start-up-Unternehmen einerseits und die Absicherung der Wertabschöpfung erfolgreicher Innovationsprozesse über intellektuelle Vermögensrechte an Patenten, Markenrechte und Lizenzen andererseits zwar Gewinne generieren, aber de facto nicht mehr eigenständig produzieren (Fernandez und Klinge
2020).
Heterodoxe Ökonomen behaupten sogar, dass die großen pharmazeutischen Unternehmen wegen des Wertabschöpfens
staatlicher Grundlagenforschung, des Insourcing von innovativen Forschungsergebnissen von Biotech-Start-up-Unternehmen und des transnationalen Outsourcing von Produktionsschritten im Grunde kein „unternehmerisches Risiko“ (mehr) übernehmen würden (Lazonick et al.
2017; Mazzucato
2019; Fernandez und Klinge
2020).
Sie dominierten vielmehr
transnationale Produktions- und Wertschöpfungsketten, indem sie Wert abschöpfen, statt Wert zu schaffen (Mazzucato
2019; Rikap
2019; Christophers
2020). Die provokante These der heterodoxen Ökonomik ist folglich, dass die großen Pharma-Unternehmen ihre auf Preisführerschaft und immateriellen Vermögenswerten (Patente, Lizenzen etc.) beruhende Marktmacht nutzen, um ihren Unternehmenswert zu Lasten von Innovationen zu steigern.
3.4 Das AMNOG aus heterodoxer Sicht
Trotz der empirischen Beschränkungen auf den angloamerikanischen Raum können zentrale Konfliktfelder des AMNOG-Reformprozesses einer vorläufigen Bewertung unterworfen werden, um die Fruchtbarkeit heterodoxer Ansätze für den hiesigen arzneimittelpolitischen Diskurs zu erörtern. Die Konfliktfelder der Berücksichtigung von Forschungs- und Entwicklungskosten, der Bedeutung von Referenzpreisen und Vergleichstherapien bei der frühen Nutzenbewertung (FNB) und die grundsätzlichen Ansatzpunkte von Kosten-Nutzen-Analysen (KNA) sowie Risk-Sharing-Modellen für die Problematik (zu) hoher Markteinstiegspreise von (onkologischen) Biologika, Orphan Drugs und ATMPs sollen im Folgenden abschließend aus heterodoxer Perspektive beleuchtet werden. Eröffnen die Erkenntnisse der heterodoxen (Pharma-)Ökonomik hier neue Perspektiven?
3.4.1 Forschungs- und Entwicklungskosten
Cassel und Ulrich (
2015a,
2015b,
2016,
2017) haben wiederholt auf den konstitutiven Konflikt im AMNOG-Verfahren zwischen Kostenträgern und forschenden Arzneimittelherstellern hingewiesen, dass die Krankenkassen eine qualitativ hochwertige Versorgung mit Medikamenten zu „Tiefstpreisen“, die Pharmaunternehmen neben den Produktions- und Vertriebskosten aber gern auch die Refinanzierung ihrer F & E-Kosten über höhere Preise ihrer Arzneimittel verlangten.
Nach den gesetzlichen Regelungen zum AMNOG-Verfahren
dürfen die Forschungs- und Entwicklungsausgaben bei der Berechnung des Erstattungsbetrages für ein Medikament mit nachgewiesenem Zusatznutzen
nicht berücksichtigt werden (Cassel und Ulrich
2016; Greiner und Witte
2016). Bei Medikamenten mit einem nachgewiesenen Zusatznutzen verlangten die pharmazeutischen Unternehmer aber zu Recht, dass die Forschungs- und Entwicklungsausgaben im Erstattungsbetrag berücksichtigt würden (Cassel und Ulrich
2016).
Abgesehen von dem Sachverhalt, dass der Nachweis eines Zusatznutzens keineswegs für alle (zukünftigen) Arzneimittel vorliegt, da z. B. für Orphan Drugs im Rahmen des europaweiten Zulassungsverfahrens bis zu einer bestimmten Umsatzgrenze ein solcher Zusatznutzen ungeprüft unterstellt wird (Ludwig
2019,
2020), ist aus der Perspektive der heterodoxen Ökonomik von Bedeutung, in welcher Form und Höhe für die Entwicklung eines konkreten Medikaments staatliche und private Forschungs- und Entwicklungsausgaben angefallen sind. Notwendig wäre eine arzneimittelspezifische Bewertung der Bedeutung privater und öffentlicher F & E-Ausgaben.
Solche empirischen Studien liegen nicht vor, sodass die unterstellte Bedrohung durch nicht refinanzierte F & E-Ausgaben anders beantwortet werden muss. Die empirisch nachweisbare kontinuierlich
außerordentliche Profitabilität (
excess returns) von „Big (Bio-)Pharma“ – solange man deren Forschungs- und Entwicklungsausgaben nicht als Kapitalinvestitionen betrachtet, wozu aus heterodoxer Sicht kein Anlass besteht (Angell
2005; Lazonick et al.
2017; Sood et al.
2021) – ist kein überzeugendes Argument für eine veritable Krise der forschenden Arzneimittelhersteller.
Es ist schließlich die Ansicht zahlreicher heterodoxer Ökonominnen und Ökonomen, dass es nicht Zweck der öffentlichen Finanzierung der Arzneimittel
versorgung ist, die finanziellen Mittel der
öffentlichen Versicherungssysteme der Krankenversorgung für die Re-Finanzierung von (zudem noch als zweifelhaft betrachteten) Forschungs- und Entwicklungsausgaben von Unternehmen einzusetzen. Im biomedizinischen Bereich seien viele privat vorfinanzierte F & E-Ausgaben neben öffentlichen Steuererleichterungen auch durch den Börsengang erfolgreicher Start-up-Unternehmen oft ausreichend refinanziert (Andersson et al.
2010; Lazonick und Tulum
2011).
Die Übernahme einer weitgehend pauschalen Regelung zur Einrechnung von (Anteilen von) Forschungs- und Entwicklungsausgaben
ist daher aus dieser Perspektive abzulehnen, wenn und weil weder der staatliche Beitrag zur Forschung und Entwicklung biomedizinischer Grundlagen noch der Anteil der öffentlichen Förderung klinischer Studien bekannt ist. Dabei wird zudem von dem Problem einer sinnvollen Abgrenzung öffentlicher und privater Forschungs- und Entwicklungsausgaben, die auch im Forschungsbericht der Bundesregierung auf der Aggregatebene verschwimmen (BMBF
2020), ganz abgesehen. Folglich sollte – wenn gewollt – aus heterodoxer Sicht die
privaten und öffentlichen F & E-Ausgaben (und Subventionen) bei einer Bestimmung des Markteingangspreises berücksichtigt werden. Oder es sollte in pragmatischer Weise die Nicht-Berücksichtigung von F & E-Ausgaben im AMNOG-Verfahren beibehalten werden, selbst für Arzneimittel mit einem (nachgewiesenen) Zusatznutzen.
3.4.2 Referenzpreise und Vergleichstherapien
Bei der
Bewertung des Erstattungsbetrags von neuen Arzneimitteln mit einem (nachgewiesenen) Zusatznutzen werden zwei Bestandteile des AMNOG-Verfahrens kontrovers diskutiert: i) das System der internationalen Referenzpreise
und ii) die zur Nutzenbewertung herangezogenen Vergleichstherapien
. Beide AMNOG-Bestandteile haben – prominenten Kritikern zufolge – erhebliche absenkende Auswirkungen auf die Erstattungsbeträge, die nicht nur zu Erlöseinbußen führten, sondern auch in Marktrückzügen von innovativen Arzneimitteln mündeten, die – sofern therapeutische Solisten – zu einer Unterversorgung mit Arzneimitteln führen könnten (Cassel und Ulrich
2012,
2015a,
2015b,
2016,
2017).
Im Rahmen der FNB werden (internationale) Referenzpreise dann bedeutsam, wenn einem neuen Arzneimittel ein Zusatznutzen attestiert und ein Erstattungsbetrag vereinbart worden ist. Verlangt wird, dass bei der Festlegung des Erstattungsbetrages sowohl die Preise des Arzneimittels in anderen Ländern als auch die Preise vergleichbarer Arzneimittel bei der gleichen Indikation berücksichtigt werden. Um den Mix der Länder ist oft der Streit im Detail entfacht. Aufgrund der hohen Markteingangspreise für Arzneimittelinnovationen auf dem deutschen Markt führen diese Preisanker zu einer Absenkung des ursprünglichen Markteingangspreises.
Ein Konflikt wird dann gesehen, wenn der resultierende Erstattungsbetrag – wie bislang üblich – veröffentlicht wird, denn das würde – ceteris paribus – zu einer Preissenkungsspirale führen, weil der deutsche Erstattungsbetrag als neuer internationaler Referenzpreis für die Vergütung desselben Medikaments in anderen Ländern (z. B. in der Europäischen Union) genommen wird. Dieser Mechanismus mache eine Refinanzierung von F & E-Ausgaben schwierig und unterminiere u. U. die Arzneimittelversorgung in einkommensschwächeren Ländern mit einer rigiden Preisregulierung (Cassel und Ulrich
2012,
2016). Die mögliche Implementierung einer staatlichen Preisbremse im US-amerikanischen Gesundheitssystem könne zudem negative Rückwirkungen auf den Pharma-Standort in Deutschland haben, weshalb eine (zumindest temporäre) Vertraulichkeit und eine reduzierte Preistransparenz für das AMNOG-Verfahren
angedacht wird (Greiner et al.
2020; Hüer et al.
2021).
Vergleichstherapien hingegen werden im Kontext des AMNOG-Verfahrens herangezogen, um den Zusatznutzen neuer Arzneimittelwirkstoffe zu bewerten. Während dies bei therapeutischen Solisten schwierig zu realisieren ist, können jedoch deren Preise sowohl für Medikamente mit Zusatznutzen als auch für Arzneimittel ohne einen belegbaren Zusatznutzen von Bedeutung sein. Im Falle eines attestierten Nicht-Zusatznutzens werden sehr oft generische Vergleichstherapien
als Preisanker herangezogen, wobei die gesetzliche Anforderung ist, dass der Erstattungsbetrag in diesem Fall nicht höher sein darf als jener des wirtschaftlichsten Generika-Arzneimittels. Kritisiert wird, dass hiermit erhebliche Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen von pharmazeutischen Unternehmen nicht refinanziert werden können und damit die zukünftige Versorgung mit innovativen Arzneimitteln gefährdet sei (Cassel und Ulrich
2016).
Zu beiden Problemaspekten hat die heterodoxe Ökonomik aus offensichtlichen Gründen der diskursiven Verortung im angloamerikanischen Raum nicht konkret Stellung nehmen können. Dennoch lassen sich hier zwei tentative Entgegnungen ableiten. Erstens ist aufgrund der in den theoretischen Axiomen der ökonomischen Heterodoxie angenommenen autonomen Preissetzungsmacht von großen Pharmaunternehmen, die eine „Preisführerschaft“ innehaben, einerseits und der – wie bereits erläutert – fragwürdigen Zurechnung der kompletten Forschungs- und Entwicklungsausgaben einer Arzneimittelinnovation in die Ausgabenbilanz privater Unternehmen andererseits nicht davon auszugehen, dass die Veröffentlichung des deutschen Erstattungsbetrages eines innovativen Arzneimittels eine Preissenkungsspirale und damit einen Desinvestitionszyklus der pharmazeutischen Forschung in Gang setzen würde. Der Preisgestaltungsspielraum von Unternehmen mit Preisführerschaft ist der heterodoxen Ökonomik zufolge größer, als die orthodoxe Sichtweise unterstellt.
Zweitens kann aus ähnlichen Gründen das Argument nicht überzeugen, dass die Festlegung des Erstattungsbetrages bei neuen Arzneimitteln/Wirkstoffen ohne Zusatznutzen in der Höhe des wirtschaftlichsten Generikums (sofern vorhanden) zu einem Zusammenbruch des betroffenen Unternehmens oder gar von Teilen der pharmazeutischen Industrie führen sollte. Zum einen gehört es zum unternehmerischen Risiko, mit der Markteinführung eines Produktes zu scheitern. Es kann nicht die Aufgabe sein, klinisch überflüssigen Arzneimitteln mittels öffentlichen Versicherungsgeldern gegen alle klinische Evidenz einen Marktzugang zu ermöglichen. Industriepolitische Zielsetzungen sollten auf keinen Fall mit sozialpolitischen Finanzierungsmitteln anvisiert werden, solange nicht eine Bestandsaufnahme öffentlicher Entwicklungs- und Forschungsfinanzierung im Bereich der betroffenen Pharmaforschung erfolgt ist. Unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten sollte dies sogar komplett unterlassen werden. Sozialpolitik ist nicht Industriepolitik.
Zum anderen ergibt sich ein viel größeres Problem, wenn Vergleichstherapien wirkstoffgleiche oder wirkstoffähnliche Nachfolgerprodukte sind, die nun für eine andere Indikation oder Gruppe zugelassen werden, bei deren Feststellung des endgültigen Erstattungsbetrags nun aber möglicherweise noch patentgeschützte Vergleichstherapien herangezogen werden. In welcher Dimension dies empirisch zutrifft, lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten. Es sollte aber in Erinnerung gerufen werden, dass die heterodoxe (Pharma-)Ökonomik sehr wohl auf diese hochpreisstabilisierenden Zulassungsstrategien von Pharma-Unternehmen hinweist. Hier besteht intensiver Forschungsbedarf.
3.4.3 Kosten-Nutzen-Analysen und Risk Sharing
Im derzeitigen AMNOG-Reformprozess werden besonders zwei gesundheitsökonomische Verfahren erörtert, die den Problemen der klinischen Bewertung von Orphan-Arzneimitteln und ATMPs begegnen können: Kosten-Nutzen-Analysen (KNA)
und Risk-Sharing-Modelle
(Greiner et al.
2020). Beide Verfahren werden bedeutsam, weil sie versprechen, die Grenzen der klinischen Bewertung von Orphan Drugs und ATMPs mittels der Gegenüberstellung von Kosten und Nutzen eines (neuen) Arzneimittels zu überwinden. Zu technischen Fragen der klinischen und gesundheitsökonomischen Evaluation hat sich die heterodoxe Ökonomik nicht geäußert, sodass es sinnlos wäre, hier eine dezidierte Position zu erwarten.
Vielleicht lässt sich dennoch eine kritische Bemerkung von Mariana Mazzucato, der
Grand Dame der heterodoxen (Pharma-)Ökonomik, in Erinnerung rufen. In ihrem stark rezipierten Buch (Mazzucato
2019), das fragt, wie der „Wert in die Welt“ komme, setzt sie sich in einem Kapitel auch mit der „Wertabschöpfung“ der Pharmaindustrie auseinander, der es gelinge, sehr hohe Preise durchzusetzen. Sie zitiert den ehemaligen Vize-Präsidenten eines großen US-amerikanischen Pharmaunternehmens mit den Worten, die Politik solle nicht so sehr auf die Kosten eines Arzneimittels schauen, sondern auf dessen Wert.
Die naheliegende Frage, was denn der
Wert eines neuen Arzneimittels ist, beantwortet der schlagfertige Manager mit dem Hinweis, dass die hohen Preise eines Arzneimittels sich dadurch rechtfertigten, dass auf der Ebene des Gesundheitssystems Kosten gespart würden, weil (nur einmal einsetzbare) Arzneimittel im Vergleich zu anderen, langwierigen Behandlungsformen für das Gesundheitssystem nun einmal billiger seien. Diese zu kalkulieren, ist die (selbst erklärte) Aufgabe der
gesundheitsökonomischen Evaluation (Greiner
2012; Leidl
2012). In der Kosten-Nutzwert-Analyse wird der Nutzen in Kategorien der Lebensqualität kalkuliert, die – Mazzucato (
2019) verweist darauf – in einen „Geldwert“ pro Maßeinheit Lebensqualität (QUALY) umgerechnet wird. Bei Kosten-Nutzen-Analysen wird der Nutzen mit der individuellen Zahlungsbereitschaft getestet. Das Bemerkenswerte sei (so Mazzucato weiter), dass die gesundheitsökonomischen Methoden der Kosten-Nutz(wert)en- oder auch Kosten-Wirksamkeits-Analysen gegen die Macht der Pharmaindustrie entwickelt worden seien. Nun jedoch würden sie zum
Kampffeld der Nutzenbestimmung von Arzneimittelinnovationen.
Wenn die monetäre Festlegung eines QUALYs dazu führe, dass manche Krebsmedikamente im britischen nationalen Gesundheitsdienst (NHS) verworfen würden, gäbe es Versorgungsprobleme. Diese gebe es aber nicht wegen einer Unterfinanzierung des NHS, sondern weil die Markt(eingangs)preise zu hoch und die Pharma-Unternehmen nicht willens seien, sie zu senken. Ob sich Kosten-Nutzen-Analysen und Risk-Sharing-Modelle eignen werden, die methodischen Probleme von klinischen Studien bei Orphan Drugs und ATMPs einzufangen und als Grundlage ihrer Bepreisung zu fungieren, wird sich erst erweisen müssen. Eine monetäre Bewertung von QUALYs ist bislang für das deutsche Gesundheitswesen außerhalb der Diskussion (Greiner et al.
2020).
Heiß diskutierte Strategien zur Umsetzung eines
Value-based Pricing (Garrison und Towse
2017) werden sich aber stets des Risikos bewusst sein müssen, das die heterodoxe Ökonomik herausgestrichen hat, dass nämlich die autonome Preissetzungsmacht und strategische Zulassungspraxis als Bestandteile eines
finanzialisierten/börsenorientierten Geschäftsmodells von „Big Pharma“ keineswegs folgenlos sind. Zudem sei es – so Mazzucatos Argument weiter – fragwürdig und überhaupt nicht selbstverständlich für gesundheitspolitische Marktregulierungen, dass die Vergütung von Gesundheitsdienstleistungen und -gütern sich an der Vermeidung von kalkulierten Folgekosten und nicht an den Produktionskosten orientiere.
3.5 Fazit
Die heterodoxe Ökonomik wirft einen skeptischen Blick auf die Geschehnisse im Arzneimittelmarkt. Indem sie die empirischen Marktstrategien von großen Pharmaunternehmen in den Fokus nimmt, bricht sie die „Black Box“ unternehmerischer Preisgestaltung und Strategiebildung auf. Weil sie dabei mit zentralen Prämissen der orthodoxen Ökonomik bricht, die trotz aller institutionellen und ordnungstheoretischen Aufbauten im neoklassischen Referenzmodell feststeckt, kommt sie zu fundamental anderen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Marktmacht von großen Pharmaunternehmen. Deren Preisführerschaft lässt sich empirisch leicht feststellen, weil neue Arzneimittelprodukte oftmals wegen der enormen Marketing- und Werbemaßnahmen mit einer recht rigiden Preiselastizität der Nachfrage einhergehen.
Struktureller Hintergrund der Finanzialisierungstendenz von „Big Pharma“ ist eine neuartige Arbeitsteilung zwischen den großen Pharma-Unternehmen, den innovativen Start-up-Unternehmen der Biopharma-Branche und den öffentlichen Geldgebern der Grundlagenforschung (z. B. den US-amerikanischen National Institutes of Health, NIH), die sich im Prozess des Aufstiegs des biotechnologischen Produktionsparadigmas herausgebildet hat. Die heterodoxe Ökonomik stellt fest, dass sich auf dem US-amerikanischen und damit auch tendenziell auf dem globalen Arzneimittelmarkt ein neues Produktions- und Wachstumsmodell herausgebildet hat, das sich an dem Auf und Ab börsenorientierter Kennzahlen ausrichtet (Maximierung des Shareholder Value). Sie behauptet, dass dies weder für den zukünftigen Budget Impact öffentlicher Versorgungssysteme noch für die Innovativität des Pharmasektors insgesamt gut sei. Vielmehr warnt sie vor börsengetriebenen Preisdynamiken (vermeintlich) innovativer Arzneimittel.
Ihr empirischer und politischer Fokus liegt zweifellos auf dem US-amerikanischen Gesundheitssystem, wo die politische Kontrolle von Arzneimittelpreisen bislang außerhalb des Wertekonsenses des politischen Systems stand. Unabhängig davon, wie die Auswirkungen der neuen US-Administration unter Präsident Biden und dem demokratisch dominierten Kongress auf das deutsche Gesundheitssystem ausfallen werden, bleibt die zentrale Erkenntnis heterodoxer Ökonomen, dass der Beitrag staatlicher Forschungsfinanzierung, die Idee der „Preisführerschaft“ und der börsenorientierten Wachstumsstrategie von großen Pharmaunternehmen eine deutlich größere Rolle bei der Bewertung und Aushandlung von Markteinstiegspreisen spielen sollte – auch in Gesundheitssystemen, die über eine „vierte Hürde“ verfügen. Was dies konkret für die Reform des AMNOG-Verfahrens bedeutet, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Die Debatte hierüber hat mit den provokanten Thesen der ökonomischen Heterodoxie erst angefangen.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.