8.2.1 „Conditional marketing authorisation“
Im Jahr 2005 wurden EU-weit sogenannte bedingte Zulassungen („conditional marketing authorisation
“, CMA) eingeführt. Sie sollen für Arzneimittel infrage kommen, bei denen die Notwendigkeit einer sofortigen Verfügbarkeit die Risiken begrenzter klinischer Informationen überwiegt (Banzi et al.
2017).
Voraussetzung für eine CMA ist zunächst, dass es sich um ein Arzneimittel für eine schwer belastende oder lebensbedrohliche Krankheit handelt. Alternativ kommen auch Arzneimittel für Krisensituationen oder Arzneimittel zur Behandlung eines seltenen Leidens (Orphan Drugs) für eine bedingte Zulassung in Betracht. Laut eigener Auswertungen der EMA betreffen tatsächlich fast die Hälfte der unter CMA zugelassenen Arzneimittel Orphan Drugs. Mehr als die Hälfte aller CMA sind der Onkologie zuzurechnen (EMA
2016).
Damit die EMA eine CMA bewilligt, müssen mehrere Bedingungen gleichzeitig erfüllt sein: Das Nutzen-Risiko-Verhältnis muss entsprechend den Kriterien der EMA positiv sein. Zudem muss der Zulassungsinhaber in der Lage sein, die aus Zulassungssicht fehlenden Daten nachzuliefern. Schließlich muss ein „unmet medical need
“ gedeckt werden. Eine letzte Voraussetzung für die CMA ist, dass der Nutzen der sofortigen Verfügbarkeit des Arzneimittels für die öffentliche Gesundheit die Risiken fehlender Daten überwiegt (s. Abschn.
8.2.4).
Eine CMA wird vorerst für ein Jahr ausgesprochen und muss jährlich erneuert werden. Wenn alle Auflagen erfüllt sind, wird sie in eine reguläre Zulassung umgewandelt. Die Erfüllung der Auflagen wird durch die EMA derzeit unzureichend durchgesetzt. Auflagen werden oft nur verspätet und/oder unvollständig erfüllt (Banzi et al.
2015,
2017; Boon et al.
2010). In einer Auswertung der EMA anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der CMA wird angegeben, dass sich die Umwandlung in eine Vollzulassung für die Mehrzahl der Arzneimittel (54 %) verzögerte, im Mittel um 2,4 Jahre (EMA
2016). Ein Widerruf der Zulassung setzt zudem den Nachweis eines negativen Nutzen-Risiko-Verhältnisses durch die Zulassungsbehörde voraus. Dies bedeutet letztlich eine Umkehr der Beweislast. So sind zum Teil Arzneimittel mit CMA weiterhin verfügbar, obgleich die auferlegten konfirmatorischen Studien negativ verliefen, so geschehen beispielsweise bei Ataluren (McDonald et al.
2017) und Pixantron (Pettengell et al.
2020). Es fehlen effektive Sanktionen.
Die Anzahl der Wirkstoffe, für die eine CMA beantragt wurde, steigt stetig (EMA
2016). Erstaunlich ist, dass nur eine Minderheit der Unternehmen von vornherein eine CMA plant (Hoekman und Boon
2019). In der Mehrheit der Fälle beantragen dagegen Unternehmen, in der Regel solche mit größerer Erfahrung im Bereich der Zulassung von Arzneimitteln, erst im Verlauf des Zulassungsprozesses eine CMA. Dies geschieht dann, wenn sich abzeichnet, dass die vorhandenen Daten für eine „reguläre“ Zulassung nicht ausreichen (Hoekman und Boon
2019) – gewissermaßen als „Notnagel“. Welches Unternehmen will schon eingestehen, dass es die Zulassungsdaten selbst als nicht ausreichend ansieht? Für einige ist dieser Umstand Ausdruck einer Ausnutzung der ambiguen regulatorischen Rahmenbedingungen für eine interessengetriebene Verhandlungsstrategie (Hoekman et al.
2016; Hoekman und Boon
2019).
8.2.2 „Approval under exceptional circumstances“
Die Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen („approval under exceptional circumstances
“, AEC) ist bereits seit 1993 in der EU gesetzlich verankert. Sie betrifft Fälle, bei denen es den Antragstellenden unzumutbar ist, umfassende Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit vorzulegen. Dies kann vorliegen, wenn die zu behandelnde Erkrankung extrem selten ist oder wenn die Erfassung vollständiger Informationen aus wissenschaftlicher Sicht unmöglich oder unethisch ist. Die wenigen gesetzlichen Grundlagen für die AEC erlauben einen weiten Bewertungsspielraum (van der Vossen et al.
2013).
Anders als eine CMA führt die AEC damit in der Regel nicht zur Umwandlung in eine reguläre Zulassung. Gleichwohl werden auch bei AEC Anforderungen an die Erhebung zusätzlicher Daten gestellt und das Nutzen-Risiko-Verhältnis jährlich durch die EMA überprüft. Außerdem können für diese Arzneimittel durch die Zulassung besondere Anforderungen für eine qualitative Leistungserbringung festgelegt werden. Schließlich sollen Fachinformation und Gebrauchsanweisung explizit darauf hinweisen, dass für das Arzneimittel in einigen Bereichen nur inadäquate Informationen vorliegen.
8.2.3 Orphan Drugs
Nach Angaben der EMA sind ca. 30 Mio. Bürger:innen der Europäischen Union von einer seltenen Erkrankung („orphan disease
“) betroffen. Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) existieren weltweit etwa 6.000–8.000 seltene Erkrankungen (Ludwig
2019). Die Bandbreite ist enorm und reicht von genetischen Erkrankungen bis zu seltenen Krebsarten. Die Entwicklung von Arzneimitteln im Bereich der seltenen Erkrankungen wurde lange Zeit vernachlässigt. Als Gründe werden fehlende Grundlagenforschung, klinische Heterogenität vieler Erkrankungen und mangelnde Rentabilität der Arzneimittelforschung genannt (Côté und Keating
2012). In Europa entschloss man sich im Jahr 2000, auf Basis der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 die Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Leiden (Orphan Drugs
) durch Schaffung von wirtschaftlichen Anreizen für die pharmazeutische Industrie anzugehen. Ziel sollte es sein, mehr Patient:innen mit seltenen Erkrankungen wirksame und sichere Therapieoptionen zur Verfügung zu stellen.
Nachfolgend werden gesetzliche Privilegien bei der Entwicklung von Orphan Drugs auf europäischer Ebene sowie in Deutschland dargestellt.
Voraussetzung für eine Zulassung als Orphan Drug ist der Einsatz des Arzneimittels zur Prävention, Diagnose oder Behandlung einer lebensbedrohlichen oder anderweitig schweren Erkrankung. Außerdem dürfen entweder keine alternativen Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen oder das neue Arzneimittel muss im Vergleich zu diesen einen erheblichen Nutzen aufweisen oder einen bedeutenden Beitrag zur Patient:innenversorgung leisten.
Zudem dürfen entweder
1.
nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen von der Erkrankung betroffen sein (Prävalenzkriterium) oder
2.
das Arzneimittel voraussichtlich nicht genügend Gewinn einbringen, um die notwendigen Investitionen zu rechtfertigen (Umsatzkriterium).
Für kein einziges der bislang zugelassenen Orphan Drugs wurde dargelegt, dass die Investitionen nicht durch die Gewinne gerechtfertigt werden (EC
2019; Marselis und Hordijk
2020). Im Gegenteil: Eine Reihe von Orphan Drugs zählen als sogenannte „
nichebuster“ zu den umsatzstärksten Arzneimitteln der Welt (Kakkar und Dahiya
2014; Marselis und Hordijk
2020). Auch für diese Arzneimittel, die keinerlei Förderung bedurft hätten, ist es derzeit seitens der EMA nicht möglich, die Orphan Drug-Privilegien wieder zurückzunehmen.
Der Erfolg der Industrieförderung
im Bereich Orphan Drugs für die Versorgung von Patient:innen mit seltenen Leiden wird mittlerweile zunehmend kritisch betrachtet. Auch über 20 Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie sind nur für 1–2 % der seltenen Erkrankungen Arzneimittel verfügbar (Ludwig
2019; Sydow und Throm
2019). Die Europäische Kommission geht davon aus, dass die meisten Arzneimittel auch ohne Orphan-Privilegien auf den Markt gebracht worden wären (EC
2019; Marselis und Hordijk
2020). Auch das Ziel, allen Patient:innen neue Behandlungsoptionen tatsächlich zur Verfügung zu stellen, steht zunehmend in Frage. Denn der Zugang zu Orphan Drugs
in der EU ist sehr ungleich verteilt: In einigen EU-Ländern mit eher niedriger Wirtschaftskraft werden viele Orphan Drugs nicht oder sehr spät vertrieben oder sind aufgrund ihres hohen Preises für die meisten Patient:innen unerschwinglich (Detiček et al.
2018; EC
2019; Newton et al.
2021; Szegedi et al.
2018). In manchen Ländern der EU sind weniger als ein Drittel der europaweit zugelassenen Orphan Drugs verfügbar (Detiček et al.
2018; EC
2019; Pejcic et al.
2018). Auch die wissenschaftliche Datenlage ist für Orphan Drugs oftmals sehr eingeschränkt (EC
2019; Ludwig
2019).
Es haben sich Strategien der pharmazeutischen Unternehmen entwickelt, die bestehenden Anreize möglichst gewinnbringend zu nutzen (EC
2019). Eine Praktik ist das sogenannte „slicing
“ (Ludwig
2019). Dabei werden Arzneimittel nur für bestimmte Teilmengen eigentlich häufiger Erkrankungen zugelassen, die dann unter die Prävalenzschwelle von 5/10.000 Menschen fallen. Krankheiten werden damit durch eine wissenschaftlich genauere Charakterisierung quasi orphanisiert und Unternehmen profitieren so von den Vorteilen eines Orphan-Drug-Status. In den USA betrifft das „slicing“ mittels Biomarkern etwa jedes sechste Orphan Drug (Kesselheim et al.
2017). Aber auch in Europa, wo die EMA diesbezüglich etwas strengere Kriterien anlegt, wird ein solches Vorgehen beobachtet (ESIP
2019; Ludwig
2019; Tsigkos et al.
2014). Eine weitere Herausforderung liegt darin, dass Orphan Drugs zunehmend für Erkrankungen zugelassen werden, für die bereits eine Reihe von Therapieoptionen zur Verfügung stehen („clustering
“). Nur mehr eines von fünf Orphan Drugs betrifft Erkrankungen ohne zugelassene Therapiealternative (EC
2019). Zusammengenommen konzentrieren sich die Investitionen der pharmazeutischen Unternehmen nicht unbedingt auf Erkrankungen mit dem größten ungedeckten Bedarf (EC
2019).
Dem Marktbereich Orphan Drugs wird weiter ein hochdynamisches Umsatzwachstum vorausgesagt, das etwa doppelt so hoch liegt wie das Wachstum im Arzneimittel-Gesamtmarkt (Ludwig
2019; Pomeranz
2019; Pomeranz et al.
2020). Manche Autoren sprechen mittlerweile gar von einem „pro orphan drug bias“ (Danzon
2018). Um das Instrument der Orphan Drugs zielgenauer auf den Patient:innen-Nutzen auszurichten, stehen Reformen der europäischen Gesetzgebung zu Arzneimitteln für seltene Leiden an.
8.2.4 Zugang versus Datenqualität – Balance finden
Die beschriebenen Zulassungsarten verbindet regelmäßig eines: Arzneimittel werden mit weniger aussagekräftigen Daten zugelassen als regulär erforderlich und können somit früher vermarktet werden. Dadurch verlängert sich der effektive und wirtschaftlich nutzbare Patentschutz. Die Kosten für Forschung und Entwicklung dieser Arzneimittel verringern sich (Jayasundara et al.
2019; Prasad und Mailankody
2017). Die frühere Zulassung führt jedoch nicht in allen EU-Ländern zu einer früheren Verfügbarkeit dieser Arzneimittel für Patient:innen. Es besteht das Risiko, durch eine beschleunigte Zulassung schwerwiegende Nebenwirkungen nicht zu entdecken (Downing et al.
2017; Mostaghim et al.
2017) oder Patient:innen mit nur schwach wirksamen Arzneimitteln zu therapieren besteht, wie im Beispiel von Ataluren (McDonald et al.
2017). In einigen Fällen führt neue Evidenz zur Rücknahme der Zulassung – beispielsweise im Fall von Olaratumab (Tap et al.
2020).
Worin besteht das jeweilige Mindestmaß an Datenqualität
für eine Zulassung? Diese Abwägung ist eine gesellschaftliche und zutiefst ethische Frage. Sie besitzt multiple Dimensionen: Zunehmend wird anerkannt, dass die bloße Zulassung eines Arzneimittels nicht bedeutet, dass Patient:innen auch Zugang dazu haben (EC
2019; McKendrick et al.
2017). In manchen Fällen kann die frühe Vermarktung aber auch eine aussagekräftige wissenschaftliche Untersuchung gänzlich verhindern (Banzi et al.
2017). Beispielsweise wurde nach beschleunigter Zulassung des Tuberkulostatikums Bedaquilin die ursprünglich konfirmatorische Phase-III-Studie TMC207-C210 aufgrund von „Änderungen des Entwicklungsplans des Zulassungsinhabers“ gestoppt (Banzi et al.
2015). Dabei liefern Studien wichtige Beiträge zur wissenschaftlichen Erkenntnis und damit für die Sicherheit späterer Patient:innen. Vieles spricht daher dafür, Patient:innen mit diesen Erkrankungen den Einschluss in klinische Studien zu erleichtern. Auch ist die Verfügbarkeit neuer, unzureichend untersuchter Arzneimittel unter Studienbedingungen für Patient:innen deshalb vorteilhafter, weil sie durch Probandenversicherungen im Falle möglicher Folgeschäden Entschädigung erhalten. Weiterhin dienen hohe Anforderungen für die Arzneimittelzulassung dazu, das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln zu schützen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass etwa die Hälfte der Studien der Phase III scheitern und nicht zur Zulassung führen. Gründe sind meist fehlende Wirksamkeit oder unzureichende Sicherheit der Arzneimittel (Kola und Landis
2004; Takebe et al.
2018). Tatsächlich sind beschleunigt zugelassene Arzneimittel häufiger von nebenwirkungsbedingten Veränderungen des Zulassungstextes betroffen (Mostaghim et al.
2017). Schließlich darf das Mindestmaß der Datenqualität für die Zulassung eines Arzneimittels auch nicht allein von der Seltenheit einer Erkrankung bestimmt werden. Denn eine solidarische Gesellschaft muss allen ihren Mitgliedern eine faire Chance auf wirksame und sichere Behandlung im Fall von Krankheit einräumen, unabhängig davon, ob es sich um eine häufige oder seltene Erkrankung handelt (Deutscher Ethikrat
2018).