Rechtswidrige Einmischung Eigentlich sollte klar sein, dass der Patient oder Bewohner selbst in freier Willensentscheidung festlegt, ob und wie er behandelt werden will. Seine Menschenwürde und das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gebieten dies. Wie sieht die Realität aus?
Es gab in Deutschland Zeiten fast ausschließlich fremdbestimmter Behandlung und Pflege. Sehr anschaulich wurde das dargestellt in der Fernseh-Serie „Charité“. Professor Ferdinand Sauerbruch, ein fachlich in wohl jeder Hinsicht hervorragender Chirurg, der ab 1928 an der Charité tätig war, wird als ein „sehr menschlicher, nur das Beste wollender Mediziner“ beschrieben - und doch hat er wohl nicht wirklich den Patienten als Menschen gesehen, sondern als „Objekt seiner medizinischen Kunst“. Erst im Laufe der Jahre fand ein deutlicher Wandel statt, der heute den Patienten in den Mittelpunkt stellt. Dazu haben auch die seit 1949 im Grundgesetz verankerten Grundrechte beigetragen. Aber auch heute gibt es noch viele Bereiche im Gesundheitswesen, in denen Menschen fremdbestimmt werden. Bisweilen wird die Selbstbestimmung leider von Ärzten und Pflegenden beinahe schon mit Füßen getreten, teilweise ist es aber nicht anders machbar, insbesondere dann, wenn sogar gesetzliche Regelungen eine Fremdbestimmung ermöglichen.
Verschwiegene Therapieoptionen
Eine fremdbestimmte Selbstbestimmung ist zunächst immer dann zu finden, wenn Patienten vom Behandler nicht alle Therapie-Varianten genannt werden. Scheinbar selbstbestimmt entscheiden Patienten sich für eine bestimmte, vom Arzt empfohlene Behandlung. In Wirklichkeit aber ist diese Entscheidung gar nicht freiwillig, sondern in Unkenntnis anderer Möglichkeiten geschehen. Ein derartiges, oft aus gewinnoptimierenden Gründen erfolgendes Vorgehen ist nicht selten zu beobachten und streng genommen sogar als menschenverachtend zu bezeichnen. Denn eine würdevolle, den Menschen respektierende Behandlung hat anders auszusehen.
Abgesehen von derart als missbräuchlicher Beeinflussung zu bezeichnenden Lenkung eines Patienten in eine bestimmte, vom Behandler gewünschte, aber nicht unbedingt für den Patienten optimale Richtung gibt es auch Fälle, in denen unsere Rechtsordnung ganz bewusst die Fremdbestimmung zulässt. Alle Bundesländer verfügen über Unterbringungsgesetze, die heute als „Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz“ oder „Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten“ und ähnliche Formulierungen, meist abgekürzt mit PsychKHG, tituliert werden. Danach können psychisch erkrankte, akut suizidale oder andere gefährdende Menschen gegen ihren Willen in einer Psychiatrie mit richterlicher Genehmigung untergebracht werden. Das Gericht entscheidet also über den Willen des Betroffenen hinweg, ob dieser Mensch seiner Freiheit beraubt und gegen seinen Willen behandelt und oft sogar einer Zwangsmedikation unterzogen werden darf.
Das Recht auf Freitod
Natürlich hat der Staat auch eine Fürsorgepflicht seinen Bürgern gegenüber und muss verhindern, dass diese sich beispielsweise wegen Liebeskummer oder wegen nicht mehr überschaubarer Schulden das Leben nehmen. Andererseits hat das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 auch entschieden, dass jeder das Recht auf einen Freitod hat - wenn er nicht durch eine psychische Störung beeinflusst ist, sondern klar und aufgrund einer freien Willensentscheidung aus dem Leben scheiden will. Dies gilt nun nicht mehr nur für Palliativpatienten, sondern auch für den, der völlig gesund ist, aber für sich entschieden hat, dass er des Lebens satt sei. Aber wann ist ein Mensch zu dieser Entscheidung in der Lage, wann muss man ihm also den Freitod gewähren? Und wann ist er aufgrund einer psychischen Erkrankung dazu nicht mehr in der Lage, sodass er gegen seinen Willen fremdbestimmt werden darf? Eine kaum mögliche Entscheidung, zumindest wird sie einige Zeit in Anspruch nehmen. Darf der Mensch, der sich für den Freitod entschieden hat und gerade von der Brücke springen will, daran gehindert werden? Die klare Antwort lautet „Nein“, zumindest wenn dadurch kein anderer zu Schaden kommt und dieser Mensch tatsächlich bei klarem Verstand ist. Doch wer soll das in dieser Situation entscheiden? In dubio pro vita - im Zweifel für das Leben - dann aber mit der Gefahr, dass ein Mensch in seinen Freiheitsrechten unberechtigterweise eingeschränkt, also - fremdbestimmt wird.
Wenn Eltern bestimmen
Ähnlich schwierig ist die Situation für Eltern und deren behandlungsbedürftigen Kindern. Solange die Kinder bzw. Jugendlichen nicht selbst über die notwendige geistige Reife verfügen und ungeachtet der Meinung ihrer Eltern selbst entscheiden können - was heute meistens ab 14/15 Jahren aufwärts der Fall ist - entscheiden die Sorgeberechtigten. Das Kleinkind wird noch keine eigene Meinung haben, aber mit zunehmendem Alter entwickeln Kinder und Jugendliche einen Willen für oder gegen eine Behandlung. Greift dann immer noch die Fremdbestimmung der Eltern oder kommt es allmählich zu einer Selbstbestimmung? Was gilt, wenn der Jugendliche, der eine Chemotherapie benötigt, aber eigentlich nicht mehr kann, nicht mehr will, die Eltern aber alles tun wollen, um vielleicht doch noch den Krebs zu besiegen? Die Wünsche und Hoffnungen der Eltern prallen förmlich auf die Menschenwürde des Jugendlichen und auf seine Wünsche an das Leben. Der Jugendliche hat wenig Chancen, sich gegen seine Eltern durchzusetzen. Ihm wird die Kraft fehlen, er wird auch nicht über die Ressourcen verfügen, ein Gericht um Entscheidung zu bitten, ob das Kindeswohl durch seine Eltern nicht bereits aus den Augen verloren wurde. Und auch für Ärzte und Pflegende ist dies oft ein Dilemma - was ist noch vernünftig, wo sollte man kapitulieren?
Angehörige und Vorsorgebevollmächtigte
Aber auch im Bereich erwachsener Patienten sieht es oftmals nicht viel besser aus. Der Patient selbst hat vielleicht klare Vorstellungen, doch seine Angehörigen, sein evtl. vorhandener Vorsorgebevollmächtigter oder gerichtlich bestellter Betreuer hat ganz andere Ziele. Ärzte und Pflegende geraten dann zwischen die Fronten - der Patient möchte das eine, die Angehörigen möchten das andere. Auch wenn die Rechtsprechung sehr deutlich zum Ausdruck bringt, dass in der Regel der Wille des Patienten zu geschehen hat, bleibt nicht selten die Frage, welchen Inhalts dieser ist. Selbst eine noch so klar formulierte Patientenverfügung kann sehr leicht von den Menschen, die es vermeintlich gut mit dem Patienten meinen, ins Wanken gebracht werden. Dann kommen Argumente wie, der Patient wollte die Patientenverfügung noch ändern, seine Meinung hatte sich grundlegend geändert, doch er hat es nicht mehr geschafft. Soll nun die Patientenverfügung gleichwohl angewendet werden oder muss doch der mutmaßliche Wille ermittelt werden? Ärzte und Pflegende sind dazu nur zu gern bereit, wenn sie die Entscheidungen in einer Patientenverfügung aus medizinisch-pflegerischer Sicht für nicht sinnvoll erachten. Da geht doch noch was - die Medizin vermag so viel zu leisten. Und schnell wird die in der Patientenverfügung erklärte selbstbestimmte Entscheidung durch Fremdbestimmung überlagert. Viele dieser Fälle sind sogar strafbar, wären sie nur leichter aufzuklären und würden mehr Strafanträge gestellt. Doch der Patient ist meistens nicht mehr dazu in der Lage, der Vorsorgebevollmächtigte gerät an seine Grenzen - nicht zuletzt auch aufgrund möglicherweise anderer Einstellungen zu bestimmten Entscheidungen des Patienten. Beispiel: Die völlig zerstrittene Familie mit der stationär palliativ gepflegten Mutter, für die die Tochter die gerichtlich bestellte Betreuerin ist und die ihre Mutter entgegen des ärztlichen Rats und entgegen der Ansicht der anderen Familienmitglieder so lange wie möglich am Leben erhalten will. Rechtlich ist derartiges kaum in den Griff zu bekommen.
Freiheitsentziehende und beschränkende Maßnahmen sind ein weiterer Bereich, in dem es nicht immer nur um das Wohl des Betroffenen geht. Richterliche Genehmigungen sind zwar erforderlich, doch wie soll der Richter als Jurist und Nicht-Mediziner entscheiden? Er wird sich auf die ärztliche Stellungnahme verlassen und wieder einmal ist der Arzt der „Richter in Weiß“, dem der Richter des Betreuungsgerichts nolens volens folgt. Aber was wäre denn der tatsächliche Wille des von der freiheitsentziehenden Maßnahme betroffenen Menschen gewesen? Oftmals werden wir es nicht wissen, nicht erfragen können - und damit bleibt die Gefahr einer Fremdbestimmung. Gerade in solchen Fällen kommt dann auch die Frage auf, ob es einen natürlichen Willen zu berücksichtigen gilt. Der völlig an Demenz Erkrankte ist in keiner Hinsicht mehr orientiert, aber dennoch in der Lage, sich gegen die Einnahme von Medikamenten, gegen Essen und Trinken oder andere Maßnahmen zu wehren. Die herrschende Ansicht verlangt indessen für eine autonome Entscheidung mehr als nur einen natürlichen Willen. Der Mensch muss eine Entscheidungskompetenz haben, kognitiv in der Lage sein, das Für und Wider abzuwägen. Und doch bleibt manches Mal ein ungutes Gefühl, den einwilligungsunfähigen Patienten möglicherweise fremdzubestimmen. Andererseits haben wir bei Kindern wesentlich weniger ethische Bedenken, diesen vorzuschreiben, was für sie gut sei. Natürlich ist der an Demenz Erkrankte kein kleines Kind, aber seine kognitiven Fähigkeiten sind eben doch vergleichbar.
Triage und das moralische Dilemma
In der Pandemie ist wiederholt der Begriff der Triage aufgetaucht. Das aus dem Französischen stammende Wort besagt, dass eine Auswahl getroffen werden muss, da aus Kapazitätsgründen nicht alle gleichzeitig versorgt werden können. Ein moralisches Dilemma, aber ein ständiges Thema in Notaufnahmen oder auf Station im Nachtdienst, wenn mehrere Pflegeempfänger gleichzeitig die Klingel betätigen und in vielen weiteren Situationen. Ärzte und Pflegekräfte entscheiden, wer in welcher Reihenfolge behandelt wird - eine Fremdbestimmung ist damit unumgänglich. Der Patient hat keinen Anspruch auf ein sofortiges Tätigwerden, zumindest dann nicht, wenn keine akute Lebensgefahr besteht - und selbst dann kann es Grenzen durch zu geringe Ressourcen geben.
Fazit
Der an den Grundrechten orientierte sehr hohe Anspruch der höchstrichterlichen Rechtsprechung an ein selbstbestimmtes Leben ist nicht nur, aber vor allem im Bereich von Medizin und Pflege, kaum umsetzbar.
Der mutmaßliche Wille, das widersprüchliche Verhalten eines Pflegeempfängers und der betreuenden Personen, medizinische Indikationen und das „Recht auf Unvernunft“ im Hinblick auf Behandlungen prallen aufeinander.
Ziel sollte aber immer sein, die Situation so gut wie möglich, also grundrechtskonform, zu gestalten.