Vorhaltung und Einsatzbereitschaft von spezialisierten Rettungsmitteln für Kindernotfälle – eine prospektive Umfrage unter den Ärztlichen Leitern Rettungsdienst in Deutschland
verfasst von:
Dr. med. Dr. med. univ. Stephan Katzenschlager, Nikolai Kaltschmidt, Daniel Pfeiffer, Dr. med. Frank Weilbacher, Prof. Dr. med. Reinhold Merbs, Prof. Dr. med. Florian Hoffmann, Prof. Dr. med. Erik Popp, Prof. Dr. med. Jan-Thorsten Gräsner, Univ.-Prof. Dr. med. Markus A. Weigand, Univ.-Prof. Dr. med. Michael Sander, PD Dr. med. Emmanuel Schneck
Spezialisierte Rettungsmittel für die Versorgung von Kindern unterliegen in Deutschland keiner gesetzlichen Vorschrift. In einigen Städten haben sich Kindernotarztsysteme etabliert, jedoch gibt es keine deutschlandweite Übersicht über deren Verfügbarkeit.
Ziel der Arbeit
Evaluation der Vorhaltung von spezialisierten Rettungsmitteln bzw. Systemen für die Versorgung von pädiatrischen Notfällen
Material und Methoden
Mittels Onlineumfragestudie unter den ärztlichen Leitern Rettungsdienst (ÄLRD) wurde von Juni bis Juli 2024 die Vorhaltung von Rettungsmitteln für pädiatrische Notfälle evaluiert und deskriptiv analysiert.
Ergebnis
Die Umfrage wurde 146-mal ausgefüllt (74 %ige Rücklaufquote). Unabhängig von der genauen Tätigkeit eines Kindernotarztes haben 14 ÄLRD angegeben, dass ein spezialisiertes System in ihrem Bereich vorgehalten wird. In 11 Rettungsdienstbereichen (RDB) wurde angegeben, dass zusätzlich Klinikpersonal bei Bedarf zu einem Einsatz hinzugezogen werden kann, während in 3 RDB ein Kindernotarzt im 24/7-Betrieb vorgehalten wird. Zusätzlich gibt es in 3 RDB ein Medical Intervention Car. Elf von 14 Systemen stehen 24/7 zur Verfügung. Knapp 50 % der Systeme werden ausschließlich auf Nachforderung eines Rettungsmittels alarmiert. Insgesamt haben16 RDB ein Telenotarztsystem etabliert, jedoch ohne Pädiater:in, nur in einem RDB ist ein solches System mit Pädiater:in in Planung.
Diskussion
Die prähospitale Versorgung von pädiatrischen Notfällen weist bundesweit erhebliche Differenzen auf. Eine Minderheit der RDB haben ein spezialisiertes System in der Vorhaltung. Mehrere RDB nutzen klinikinterne Ressourcen, um im Bedarfsfall Personal an die Einsatzstelle zu entsenden.
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Kindernotfälle aller Dringlichkeitsstufen stellen für das Rettungsdienstpersonal aufgrund der geringen Inzidenz eine Herausforderung dar. Zusätzlich sind erweiterte Maßnahmen, wie die Notfallnarkose oder der pädiatrische Kreislaufstillstand, eine Seltenheit für die einzelnen Mitarbeitenden. Spezialisierte Systeme in Form von Kinder-NEF oder Medical Intervention Cars können aufgrund einer hohen innerklinischen Spezialisierung die notwendige Expertise an die Einsatzstelle bringen. Bislang existiert keine deutschlandweite Übersicht über solche Systeme.
Einleitung
Die prähospitale Kindernotfallmedizin stellt eine herausfordernde Subdisziplin der Notfallmedizin dar. Notärzt:innen, die sich in Deutschland überwiegend nicht aus pädiatrischen Fachbereichen rekrutieren, fühlen sich häufig mit der Versorgung von Kindernotfällen unsicher [1, 2]. Einige Gründe hierfür sind die Seltenheit des kritischen Kindernotfalls, emotionale Betroffenheit sowie die Expertise von speziellen Fertigkeiten. Die Expertise für erforderliche Maßnahmen, wie z. B. ein i.v.-Zugang bei Säuglingen, Katecholamintherapie, Intubation bzw. Atemwegsmanagement und eine Thorakotomie, lassen sich hauptsächlich innerhalb der Klinik erlernen. Einen dahingehenden Effekt zeigen innerklinische Arbeiten, in denen das Überleben von pädiatrischen Intensivpatienten direkt mit der Anzahl an Fälle korreliert [3] und die eine 6 %ige Rate an schwierigen Intubationen bei Kindern zeigten [4]. Die größte Expertise ist daher in der Kinderintensivmedizin sowie Kinderanästhesie zu erwarten.
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Um den Bedarf an notwendigen Maßnahmen ableiten zu können, haben mehrere Studien die Epidemiologie von pädiatrischen Notfällen untersucht. Während die Inzidenz an Kindernotfällen im Allgemeinen in Westeuropa vergleichbar erscheint, gibt es aber deutliche Unterschiede in der Inzidenz von kritisch erkrankten Kindern [5‐8].
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob spezialisierte Rettungsmittel wie z. B. ein Kindernotarzteinsatzfahrzeug (Kinder-NEF) zur Versorgung von pädiatrischen Notfällen zur Verfügung gestellt werden sollte. So wurde die pädiatrische Versorgung zwar nicht explizit in der 9. Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission zur „Reform der Notfall- und Akutversorgung: Rettungsdienst und Finanzierung“ adressiert, aber der Einsatz von „speziell qualifizierten Notärztinnen und Notärzten nach einheitlichem Standard präklinisch nur in besonders komplexen Fällen“ gefordert [9].
Für dieses Problem werden verschiedene Lösungen, die von speziellen Kinder-NEF bis hin zur Verbesserung der Ausbildung von regulären Notärzt:innen reichen, diskutiert. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Spezialisierung besteht zudem die Möglichkeit, die notfallmedizinische Expertise durch eine telemedizinische Anbindung, beispielsweise in einer integrierten Leitstelle, intensiver zu nutzen. Kinder-NEF-Systeme unterliegen in der Bundesrepublik Deutschland im Gegensatz zu der außerklinischen Versorgung von Früh- und Neugeborenen durch Perinatalzentren (meist definiert als Lebensalter ≤ 28 Tagen; [10, 11]) und der regulären notärztlichen Versorgung keiner gesetzlichen Vorschrift [12, 13]. Ebenso wenig existieren im Gegensatz zu dem „Neugeborenennotarzt“ und der Zusatzbezeichnung „Notfallmedizin“ Vorgaben für die Bezeichnung „Kindernotarzt“ [14]. Dennoch haben sich in Deutschland in einigen Städten solche Kinder-NEF-Systeme etabliert, die vielerorts eine positive Resonanz durch Patient:innen(-eltern), Kliniken, Rettungsdienste und die Bevölkerung erhalten. Unterschiede in der Vorhaltung spezialisierter Rettungsmittel für Kindernotfälle erschweren die Vergleichbarkeit in der Versorgungsqualität und Wissenschaft [5, 6].
Aktuell gibt es keine Übersicht über die vorhandenen Kinder-NEF-Systeme in Deutschland.
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Ziel dieser Studie ist es, systematisch die aktuelle Vorhaltung von spezialisierten notärztlichen Systemen für Kindernotfälle in Deutschland zu erfassen. Dies wird mit einer Umfrage unter den ärztlichen Leitern Rettungsdienst (ÄLRD) untersucht.
Methodik
Es handelt sich um eine Umfrage unter den deutschen ÄLRD. Die Studie wurde durch den Bundesverein der deutschen ÄLRD (Ansprechpartner Prof. Dr. med. R. Merbs) und mit Unterstützung (Konsentierung des Fragebogens) der Sektion Notfallmedizin der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e. V. (Prof. Dr. med. J.-T. Gräsner) sowie führenden Experten aus dem Bereich der pädiatrischen Notfallmedizin (Prof. Dr.med. Florian Hoffmann) und der Reanimatiologie und Versorgungsforschung durchgeführt. Die Ethikkommission der Justus-Liebig-Universität Gießen hat dem Vorhaben zugestimmt (AZ 201/23). Die Studie wurde nach den Vorgaben der Checklist for Reporting of Survey Studies (CROSS) durchgeführt (Onlinezusatzmaterial CROSS Checklist).
Umfrage
Die Umfrage wurde zwischen dem 02.06.2024 und dem 14.07.2024 unter den ÄLRD unter Verwendung des Tools „LimeSurvey“ (https://www.limesurvey.org/, LimeSurvey GmbH, Hamburg, Deutschland) durchgeführt. Die Aussendung erfolgte über den Bundesverband der ÄLRD (RM) mit einer einmaligen Erinnerung. Vorab wurden die Fragen erstellt, von allen Autoren geprüft und überarbeitet. Die Auflistung der Fragen ist im Onlinezusatzmaterial (Umfrage) angegeben.
Teilnahmeberechtigt war ein ÄLRD des jeweiligen Rettungsdienstbereichs. Sollte ein Rettungsdienstbereich über keinen ÄLRD verfügen, konnte die Umfrage durch vergleichbare Äquivalente, wie den leitenden Notarzt (LNA) oder Bereichsleiter Rettungsdienst, durchgeführt werden.
Datensynthese und statistische Analyse
Die abgeschlossene Umfrage wurde in Microsoft Excel (Microsoft Corporation, Redmond, WA, USA) extrahiert. Initial wurde eine Kontrolle auf Mehrfachantworten durchgeführt, indem die angegebenen Rettungsdienstbereiche verglichen wurde. Bei doppelter Teilnahme wurde der erste Eintrag in diese Studie eingeschlossen.
Eine deskriptive Statistik wurde für die Evaluierung durchgeführt. Eine Vorabdefinition eines „Kinder-NEF“ wurde aufgrund einer fehlenden DIN-Norm nicht durchgeführt. Die Teilnehmenden hatte die Möglichkeit anzugeben, ob und falls ja, mit welchem spezialisierten Rettungsmittel sie komplexen pädiatrischen Notfällen (z. B. kindliches Polytrauma, Kinderreanimation) begegnen. Die Inzidenz wurde anhand der angegebenen Einwohneranzahl berechnet. Hierfür wurde der bundesweite Durchschnitt der pädiatrischen Bevölkerung herangezogen [15].
Die grafische Darstellung erfolgte unter Zuhilfenahme von Microsoft Excel, GraphPad PRISM und MapCharts (https://www.mapchart.net).
Ergebnisse
Insgesamt wurde die Umfrage 146-mal beantwortet, dies entspricht einer Rücklaufquote von 74 % bei 197 ordentlichen Mitgliedern des BV ÄLRD. Hiervon waren 58 ÄLRD, 2 LNA und in den restlichen 86 Fällen (58 %) wurde keine Funktionsbezeichnung angegeben. Die Größe der Zuständigkeitsbereiche lag zwischen 69.000 und 1,9 Mio. Einwohnern. In 23 Fällen lag im entsprechenden Versorgungsbereich ein Maximalversorger mit einer pädiatrischen Fachabteilung vor, während in 28 Fällen eine Kinderklinik ohne Maximalversorger vorhanden war.
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Vorhaltung spezialisierter Systeme für die Versorgung pädiatrischer Notfallpatienten
Unabhängig von der genauen Tätigkeit des Kinder-NEF haben 14 ÄLRD angegeben, dass ein spezialisiertes System für Kindernotfälle in ihrem Bereich vorgehalten wird. Hierbei wurden 18 Optionen gewählt (Abb. 1). Insgesamt gab es 4 Doppelnennungen, die sich wie folgt aufschlüsseln: In einem RDB gibt es die Kombination ÄLRD und Hinzuziehen der Kinderanästhesie bei schweren Kindernotfällen. In einem anderen RDB werden ein Baby-NAW und RTH vorgehalten. Zwei RDB berichten, dass außerhalb der Dienstzeiten des MIC (7.00 bis 17.00 Uhr) Klinikpersonal bzw. der diensthabende Oberarzt der Kinderklinik nach Absprache verfügbar sind.
Abb. 1
Kreisdiagramm zur Darstellung der verschiedenen Systeme zur Unterstützung bei prähospitalen Kindernotfällen (Mehrfachnennungen möglich). MIC Medical Intervention Car, NEF Notarzteinsatzfahrzeug
×
Davon waren 3 Systeme Kinder-NEF-Systeme, die ausschließlich für die Versorgung von Kindernotfällen vorgesehen waren, sowie 3 Medical Intervention Cars (MIC). Die Örtlichkeiten der Rettungsmittel werden in Abb. 2 dargestellt.
Abb. 2
– Deutschlandkarte mit den Standorten, die namentlich benannt wurden. Bekannte Systeme wurden durch Kenntnis der Autoren eingetragen, aber nicht in der Umfrage genannt. NEF Notarzteinsatzfahrzeug
×
In den anschließenden deskriptiven Auswertungen werden nur jene Standorte analysiert, die in der Umfrage erfasst wurden. Von diesem Rettungsmittel standen 11 ganzjährig und zu jeder Uhrzeit zur Verfügung. Nur 7 (4,8 % der Gesamtkohorte) dieser spezialisierten Systeme waren offiziell in den Bedarfsplänen der Rettungszweckverbände verankert.
In der Alarm- und Ausrückeordnung war die Möglichkeit zur Primäralarmierung bei 8 Systemen vorgesehen, während die übrigen 6 Rettungsmittel ausschließlich auf Sekundäranforderung des Rettungsdienstes alarmiert werden. Insgesamt war in 10 Fällen eine Alarmierung per Funkmeldeempfänger möglich.
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Die Einsatzfrequenz der spezialisierten Systeme zu Notfällen von Kindern > 28 Tage unterschied sich deutlich. Während insgesamt 9 Befragte angaben, dass das jeweilige Rettungsmittel regelmäßig alarmiert wird (mehrfach pro Woche: n = 4, ca. einmal pro Woche: n = 1, weniger als einmal pro Woche, aber mehrfach im Monat: n = 4), gab es auch Rettungsmittel mit einer deutlich selteneren Alarmierungsfrequenz (ca. 2- bis 3‑mal pro Jahr: n = 2, ca. 6-mal pro Jahr: n = 1, keine Angabe: n = 2).
Eine telenotärztliche Unterstützung war in 16 Fällen (64 Nein- und 66 fehlende Angaben) möglich. In keinem Fall gab es eine telemetrische Unterstützung durch einen Kinderarzt. Bezüglich der zukünftigen Versorgung gaben 42 Befragte an, dass ein Telenotarztsystem geplant ist, allerdings ohne pädiatrische Expertise. Lediglich ein System ist mit kinderärztlicher Qualifikation geplant. Sechs Befragte gaben an, dass aktuell kein telenotärztliches System geplant ist, während die restlichen Befragten keine Angaben machten.
Personelle Kompetenzen
Die Fachrichtung der ärztlichen Besatzungsmitglieder in Abhängigkeit des Systems wird in Tab. 1 dargestellt.
Tab. 1
Darstellung des Personals in Abhängigkeit des speziellen Systems für Kindernotfällea
Personal ärztlich
Kinder-NEF
(n = 3)
MIC
(n = 3)
Erweitertes NEF/RTH (n = 2)
Rendezvous
(n = 10*)
Pädiatrie
3
2
2
7
Fachärzt:in
2
6
Assistenzärzt:in
1
1
Anästhesie
–
3
2
4
Andere
–
–
Chirurgie, Innere
Notfallmedizin
Personal Rettungsdienst
NFS
1
1
2
7
Pflegepersonal mit FWB
2
1
–
1
Pflegepersonal ohne FWB
1
–
–
1
NFS Notfallsanitäter:innen, FWB Fachweiterbildung, NEF Notarzteinsatzfahrzeug, MIC Medical Intervention Car, RTH Rettungstransporthubschrauber
*Einmal keine Angabe
aEs konnte mehr als eine Fachrichtung pro System angegeben werden
In den Fällen, in denen keine Facharztqualifikation notwendig war, wurde in einem System die Zusatzbezeichnung Notfallmedizin und eine Rotation auf der neonatologischen Intensivstation gefordert sowie in einem anderen Fall eine mindestens 3‑jährige Berufserfahrung und 6‑monatige intensivmedizinische Erfahrung. Die Qualifikation des Rettungsdienst- und Pflegepersonals zeigt, dass vorwiegend Notfallsanitäter:innen zum Einsatz kommen.
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Materielle Ausstattung
Der Fahrzeugtyp war in 6 Fällen mit einem Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) und in 5 Fällen mit einem Rettungswagen (RTW) vergleichbar (3 fehlende Antworten). Zwei spezielle Rettungsmittel haben die Möglichkeit, in dem eigenen Fahrzeug einen Inkubator aufzunehmen.
Fragen zu speziellen Materialien wurden in 8 Fällen beantwortet. Als besondere Merkmale wurde dabei bei 6 Rettungsmitteln das Videolaryngoskop mit entsprechenden pädiatrischen Spateln genannt, während 5 Befragte zusätzlich Larynxmasken für Kinder auf diesen Rettungsmitteln vorhalten. Das Vorhandensein von portablen Ultraschallgeräten für das Etablieren von venösen Zugängen (z. B. GE V‑Scan® oder spezielle Punktionsnadeln) wurde in 2 Fällen angegeben.
Charakterisierung von kritischen Kindernotfällen
Die Antworten zur Inzidenz von Einsätzen mit einer Kinderreanimation, der Notwendigkeit der Sicherung eines kindlichen Atemwegs oder der Behandlung eines pädiatrischen Polytraumas sind in Abb. 3 dargestellt.
Abb. 3
Darstellung der Inzidenz pro 100.000 Kinder von Einsätzen mit Notwendigkeit der pädiatrischen Atemwegssicherung, eines pädiatrischen Polytraumas oder einer Kinderreanimation. Der Median ist als durchgezogene schwarze Linie dargestellt
×
Diskussion
Diese Umfrage zeigte, dass im deutschen Rettungsdienstsystem nur wenige spezialisierte Systeme für Kindernotfälle vorgehalten werden; dies, obwohl sich ein Großteil des Rettungsdienstpersonals mit Kindernotfällen herausgefordert fühlt und das Atemwegsmanagement bei Kleinkindern und Säuglingen mit einem erhöhten Komplikationsrisiko assoziiert ist [16‐18]. Insbesondere die in dieser Arbeit abgefragten Notfallsituationen außerklinischer Kreislaufstillstand [19], Polytraumaversorgung und Atemwegssicherung [20] sind aufgrund der dargestellten Seltenheit nicht in einer reinen rettungsdienstlichen Tätigkeit erlernbar. Die dafür notwendige Routine und Expertise entstehen überwiegend im klinischen Kontext und in der Simulation, was die Notwendigkeit einer stärkeren Verzahnung von Rettungsdienst und Klinik unterstreicht [21]. Vorrangig die strukturierte Beurteilung und Behandlung von schwer verletzten Kindern kann in Simulationstrainings mit der Hinzunahme von virtueller/erweiterter Realität trainiert werden. Neben der Zusatzweiterbildung Notfallmedizin sollten kompetenzbasierte Voraussetzungen (engl. „entrustable professional activities“) erfüllt werden, um die eingangs genannten Fertigkeiten sowie nichttechnische Skills zu erlernen [22, 23].
Der Wunsch, teils auch die Forderungen nach einer Kompetenzentwicklung in der prähospitalen Notfallmedizin von Rettungsdienstmitarbeitern bis hin zu spezialisierten Fachkräften ist ein stetiger Diskussionspunkt in der Notfallmedizin, wenn auch kaum wissenschaftliche Publikationen hierzu generiert wurden. Dies mag damit erklärbar sein, dass eine Randomisierung von Kindernotfällen in das eine oder andere System aus ethischer Sicht nicht vertretbar erscheint. Daher wundert es nicht, dass die Forderung nach einer Professionalisierung der Kindernotfallmedizin insbesondere im Kontext von komplikativen Versorgungen von Kindernotfällen erfolgte und daher außerhalb der Fachliteratur diskutiert wurde [24]. Dass dies aber auch Konsequenzen hat, zeigt eine Entscheidung des Landes Hessen, gemäß welcher seit dem 01. Januar 2025 die Behandlung von Kindernotfällen verpflichtend Teil der jährlichen Fortbildung für Rettungsdienstfachpersonal und Notärzte sein muss [25]. Auch in der 9. Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission werden interdisziplinäre Notfallzentren, teilweise mit pädiatrischer Expertise, vorgeschlagen [9]. Allerdings wird eine flächendeckende Verfügbarkeit von spezialisierten Notfallmediziner:innen, insbesondere von Kinderärzt:innen mit notfall- und intensivmedizinischer Ausbildung, insbesondere in ländlichen Gebieten kaum realisierbar sein.
Hieraus entsteht ein Dilemma; einerseits besteht der Anspruch, Kindern die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen, anderseits sieht sich das deutsche Rettungswesen mit einem zunehmenden Mangel an qualifizierten Notärzt:innen konfrontiert. Um dieser Herausforderung zu begegnen, wurden in der o. g. Empfehlung die Kompetenzen des Rettungsdienstpersonals gestärkt, um die freiwerdenden ärztlichen Ressourcen zu bündeln [9]. Letztere sollen nur noch in „besonders komplexen Fällen“ alarmiert werden. Im bodengebundenen Rettungsdienst wird allerdings eine Vorhaltung aufgrund der geringen Einsatzzahlen, der Vorhaltungskosten und der zur Verfügung stehenden Personalressourcen am ehesten nur in Ballungszentren möglich sein. Als Möglichkeit, die Expertise in die Fläche zu bringen, wird daher am ehesten die Luftrettung gesehen. Zusätzlich ist im Sinne der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse Artikel 72, Abs. 2 des Grundgesetzes zu berücksichtigen, da ansonsten insbesondere ländliche Gebiete benachteiligt werden könnten.
Kritische Kinder gehören nach Meinung der Autoren zu diesen komplexen Einsätzen, die eine:n Spezialist:in notwendig machen. Ein:e Kindernotärzt:in sollte eine:n Fachärzt:in für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderchirurgie oder Anästhesiologie mit regelhafter Betreuung von schwer bis kritisch erkrankten pädiatrischen Patient:innen und der Zusatzbezeichnung für Notfallmedizin sein. Die Sicherung der Vitalfunktionen und das Atemwegsmanagement zählen zu den Kernkompetenzen eines Kindernotfallmediziners. Für den Gefäßzugang bei kritisch kranken Kindern konnte gezeigt werden, dass mit der Anwendung von Ultraschall die First- und Overall-passt-Quote erhöht werden kann [26]. Diese Fertigkeiten können nur ausreichend in der Kinderintensivmedizin oder Kinderanästhesie erlernt und aufrechterhalten werden. Die Umsetzung dieses Qualitätsstandard dürfte für die meisten RDB außerhalb von Ballungsräumen kaum erreichbar sein. Aus Mangel an Kinder-NEF-Systemen haben sich RDB, die ein Konzept für kritische Kindernotfälle erarbeitet haben, entweder klinischer Ressourcen bedient oder Mischsysteme, wie z. B. MIC-Systeme, entwickelt, die zu unterschiedlichen Dienstzeiten agieren. Denkbar wäre es auch, je nach Region gewisse „Schwerpunkt“-Notarztstandorte mit Verfügbarkeit eines RTH für Kindernotfälle auszubilden und entsprechend für kritische Kindernotfälle vorzusehen. Hieraus lässt sich ein lösungsorientierter Pragmatismus ableiten, der allerdings meist individuelle Absprachen erfordert und somit nicht verallgemeinerbar ist, da Kinderintensivmediziner:innen beispielsweise nicht in jedem RDB verfügbar sind. Weiterhin fehlen diese dann in der klinischen Versorgung. Andererseits können von einem MIC-System, das eine Vielzahl von komplexen medizinischen Maßnahmen in jedem Patientenalter erfüllen muss, nicht die gleichen Kompetenzen erwartet werden wie von spezialisierten Kindernotfallmediziner:innen. Aus Sicht der Autoren braucht es hierfür eine mehrjährige Erfahrung in der Kinderanästhesie inklusive Säuglings- und Neugeborenenanästhesie. Diese Überlegungen, basierend auf den Ergebnissen dieser Umfrage, verdeutlichen das Dilemma, in dem sich die deutsche prähospitale Kindernotfallmedizin befindet.
Eine kurzfristige Lösung erscheint hier nur schwer umsetzbar, dennoch kann die Studie einige Impulse für die Weiterentwicklung der prähospitalen Kindernotfallmedizin bieten. Die Umfrage zeigte im Einklang mit anderen Studien, dass kritisch kranke und verletzte Kinder eine seltene Einsatzindikation darstellen. In einer aktuellen Analyse der Krankenkassendaten einer großen Versicherung zeigt sich, dass eine Hospitalisierung in der Altersgruppe 0–2 Jahre hauptsächlich ohne Rettungsdienstkontakt stattfand und somit kein kritischer Zustand vorlag [27]. Auch Daten von 49.193 Kindernotfällen in München zeigten, dass in einem 5‑Jahres-Zeitraum nur 5,5 % der Kinder, die vom Rettungsdienst in der Notaufnahme vorgestellt wurden, in die höchste Sichtungskategorie 1 eingestuft wurden, von diesen allerdings 58 % einer unmittelbaren intensivmedizinischen Behandlung bedurften [28]. Hier könnte die telemedizinische Unterstützung von großem Nutzen sein. Bei nichtkritischen Kindern könnte das Rettungsdienstfachpersonal bei der Entscheidungsfindung unterstützt und die Anzahl an notärztlichen Einsätzen und Krankenhauseinweisungen reduziert werden. Zusätzlich könnte auch bei der Versorgung von kritischen Kindern die Telenotfallmedizin eine maßgebliche Rolle spielen. Als zusätzliche Person könnten relevante Vorbefunde eruiert, Checklisten und Dosierungen kontrolliert sowie Voranmeldungen in geeigneten Kliniken durchgeführt werden.
So konnte bislang gezeigt werden, dass mittels telenotärztlicher Unterstützung lebensbedrohliche Zustände erkannt und verbessert werden konnten ohne dass ärztliches Personal physisch an der Einsatzstelle anwesend war [29]. Allerdings sind für diesen Zweck pädiatrische Fachkenntnisse erforderlich. Da nur in einem RDB eine Involvierung von Kinderärzt:innen in der Telenotfallmedizin geplant ist, besteht aus Sicht der Autoren hier dringender Handlungsbedarf, da mit einer geringen Anzahl von Expert:innen eine hohe Anzahl von Patient:innen erreicht werden könnte. Hierdurch könnte insbesondere dem Mangel an spezialisiertem Personal im ländlichen Raum begegnet werden. Limitierend bei einer telemedizinischen Lösung ist allerdings die, wenn auch seltene, aber zwingende Notwendigkeit der Durchführung von zeitkritischen Interventionen. Hierfür wird weiterhin der Rettungsdienst entscheidend sein, sodass auch eine Ausbildung in den effektiven Basismaßnahmen unerlässlich ist. Für erweiterte Maßnahmen, wie z. B. die endotracheale Intubation, sollten allerdings Spezialist:innen hinzugezogen werden. Hintergrund ist das hohe Komplikationsrisiko im erweiterten Atemwegsmanagement von Kleinkindern und Säuglingen [17, 18]. Zusätzlich ist hervorzuheben, dass im Fall der kindlichen Reanimation bisher divergierende Ergebnisse zum Nutzen des erweiterten Atemwegsmanagements festgestellt wurden [19, 30, 31].
Diese Studie kann nur beschreiben, welche Lösungen für die Versorgung von kritisch erkrankten oder verletzten Kindern gefunden wurden. Es gibt lokal bereits etablierte Systeme wie das Kinder-NEF aus München oder das MIC aus Heidelberg. Diese Systeme verfolgen unterschiedliche Ansätze in der pädiatrischen Versorgung. Während ein Kinder-NEF zu allen prähospitalen Kindereinsätzen disponiert wird, wird das MIC lediglich zu schweren Kindertraumata oder Kinderreanimationen alarmiert. Es existieren für beide Systeme positive Erfahrungen, allerdings ohne Evidenz, die das eine oder andere System favorisiert. Eine Spezialisierung bei dieser seltenen Kohorte kann zudem zu einer Abnahme der Expertise von regulärem notärztlichem Personal führen. Dies ist insbesondere für die Luftrettung relevant, die auch im ländlichen Bereich große Strecken schnell überbrücken und somit Expertise an den Einsatzort bringen kann. Trotz der Verfügbarkeit von bis zu 40 Perinatalzentren (Level 1) mit einem Neugeborenenholdienst konnte in dieser Umfrage keine regelhaft Versorgung von Kindernotfällen im Rettungsdienst über die ÄLRD festgestellt werden. Die Gründe hierfür können verschieden sein. Zum einen wurde die Umfrage auf Kinder > 28 Tage ausgelegt. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, dass die Perinatalzentren trotz des Holdienstes keine Ressourcen für die Notfallversorgung von Kindernotfällen haben oder diese Ressource dem Rettungsdienst nicht bekannt ist.
Die Stärken dieser Studie liegen in der hohen Rücklaufquote und der Darstellung der geografischen Verteilung. Hierdurch wird ein Ansatz für eine Ressourcennutzung geschaffen. Trotz der hohen Rücklaufquote hat die vorliegende Studie einige Limitationen: a) Bekannte Standorte wurden aufgrund fehlender Antworten in den Rückmeldungen der ÄLRD nicht erfasst. Daher sind relevante Standorte nicht in dieser Umfrage abgebildet. Hierdurch konnte das Kindernotarztsystem nicht in seiner Gänze erfasst werden, dennoch bleibt die diskutierte Problematik zur inhomogenen Kindernotarztversorgung aus Sicht der Autoren bestehen. b) Ein relevanter Anteil hat Antwortfelder unbeantwortet gelassen. Eine Balance zwischen Pflichtfeldern und Machbarkeit ist essenziell, da die Gefahr eines geringeren Rücklaufs bei mehr Pflichtfeldern besteht. c) Baden-Württemberg verfügt über lediglich 4 ÄLRD bei 35 Rettungsdienstbereichen. Dies kann zur Folge haben, dass diese nicht über den Gesamtüberblick bezüglich spezialisierter Systeme verfügen, was sich auch im Ausbleiben der Nennungen der Kinder-NEF in Karlsruhe und in Mannheim widerspiegelt. d) Zuletzt existiert keine einheitliche Definition eines „Spezialisten für Kindernotfallmedizin“, sodass die Bewertungen der individuellen Kompetenzen variieren können, auch wenn die Umfrage zumindest das zugrunde liegenden Qualifikationsniveaus beschreibt.
Zusammenfassend zeigt diese Umfrage das Dilemma in der Versorgung von kritischen Kindernotfällen und bietet die Grundlage für weiterführende Untersuchungen im Bereich der pädiatrischen Versorgungsforschung. Insbesondere Kinder-NEF-Standorte könnten in Zukunft ihre Expertise in Form einer telemedizinischen Anbindung in der gesamten Bundesrepublik verfügbar machen.
Fazit für die Praxis
Auch in spezialisierten pädiatrischen Versorgungssystemen bleibt die Anzahl an kritischen Kindernotfällen gering. Dies zeigt erneut die Notwendigkeit einer Routinegewinnung durch eine innerklinische Tätigkeit.
Aktuell gibt es keine flächendeckende spezialisierte prähospitale Versorgung von pädiatrischen Notfallpatient:innen.
Die Verfügbarkeit und der Aufgabenbereich zwischen den erhobenen Systemen divergierten stark.
Die Einbindung von bekannten Kinder-NEF-Standorten in zukünftige telemedizinische Projekte kann die Expertise erhöhen.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
S. Katzenschlager, N. Kaltschmidt, D. Pfeiffer, F. Weilbacher, R. Merbs, F. Hoffmann, E. Popp, J.-T. Gräsner, M.A. Weigand, M. Sander und E. Schneck geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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