Vor dem Hintergrund einer immer stärker wachsenden Inanspruchnahme der Notfallversorgung respektive des Rettungsdiensts ist der Ruf aus dem Gesundheitswesen und der Wissenschaft nach einer umfassenden Notfallreform in Deutschland immer lauter geworden. Die vorliegende Publikation analysiert erstmals für über 50 der bevölkerungsreichsten Gebietskörperschaften, zusammengesetzt aus Großstädten und Landkreisen in Deutschland, deren Strukturparameter des Rettungswesens. Dies soll als ein Grundstein für eine sachliche Diskussion über die Zukunft und Ausgestaltung einer Reform des deutschen Rettungsdiensts dienen. Im Mittelpunkt stehen die Auswertungen von Inanspruchnahme, Leistungs- und Strukturparametern, basierend auf einer Umfrage unter den Ärztlichen Leitungen Rettungsdienst (ÄLRD) aus 50 unterschiedlichen Gebietskörperschaften. Die Ergebnisse lassen schlussfolgern, dass die Art der Notrufabfrage Einfluss auf den Umfang der Einsatzmittelvorhaltung hat. Weiterhin zeigt die Analyse der zum Thema publizierten Literatur und inzwischen vorliegenden wissenschaftlichen Stellungnahmen beziehungsweise Gutachten, dass eine bundeseinheitliche, koordinierte und umfassende Reform der Notfallversorgung einschließlich der Teilbereiche Leitstelle, Rettungsdienst und integrierte Notfallzentren dringend erforderlich ist. Mithilfe der in dieser Arbeit vorgestellten Umfrageergebnisse werden Bausteine für eine evidenzbasierte Grundlage der Diskussion um den Rettungsdienst in Deutschland gelegt und wichtige Einblicke für zukünftige Entscheidungen auf allen exekutiven und legislativen Ebenen gegeben.
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Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
In nahezu allen Rettungsdienstsystemen in Europa und Nordamerika haben die Anzahl der Notrufe und die Einsatzzahlen des Rettungsdiensts in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen. Auch in Deutschland ist diese Entwicklung trotz regionaler Unterschiede in der Organisation und Ausgestaltung des Rettungsdiensts flächendeckend zu beobachten [1]. Entsprechend sind die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für den Rettungsdienst innerhalb der Gesundheitsausgaben weit überproportional gestiegen und betrugen 2023 mit ca. 8,7 Mrd. € fast 10 % der Gesamtausgaben für Krankenhausbehandlungen. Der Rettungsdienst verzeichnet innerhalb der Gesundheitsausgaben der Krankenkassen inzwischen den höchsten relativen Anstieg an Kosten und hat sich seit zehn Jahren nahezu verdoppelt (+ 4,4 Mrd. €; [2‐4]). Der Bundesrechnungshof hat diese Entwicklung in der Vergangenheit bereits scharf kritisiert und eine Regierungskommission beim Bundesgesundheitsministerium konnte inzwischen konkrete Vorschläge für notwendige gesetzliche Anpassungen vorlegen [2, 5].
Nachdem bereits in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen Fachpublikationen immer wieder eine Neuordnung der Notfallversorgung in Deutschland gefordert wurde, haben in jüngster Zeit mehrere Gutachten eine umfassende Reform empfohlen [6‐8]. Im speziellen Teil dieser Gutachten und Berichte waren stets auch die Forderungen zu finden, dass die Notrufnummer 112 mit der Notfallnummer der kassenärztlichen Vereinigung 116117 so vernetzt werden solle, dass Hilfeersuchen rund um die Uhr überall auch mit einer Gesundheitsberatung oder einem Hausarztbesuch beantwortet werden können.
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Im Rahmen der jüngsten Diskussionen um die Zukunft des Rettungsdiensts spielte auch die Sorge um den sich immer weiter verschärfenden Fachkräftemangel eine Rolle. Trotz anhaltend hoher Anerkennung der Berufsbilder im Rettungsdienst zeigt sich eine insgesamt abnehmende berufliche Verweilzeit der Beschäftigten im Rettungsdienst, was auch jüngere Befragungen von Auszubildenden zur Notfallsanitäterin bzw. zum Notfallsanitäter zeigten [9]. Immer wieder wurde deshalb auch die Frage aufgeworfen, ob die Ausbildungs- und Prüfungsordnungen noch die Bedürfnisse und Bedarfe abbilden, die an einen modernen und zukunftsfähigen Rettungsdienst respektive Berufsalltag gestellt werden müssen. In der Fachwelt gibt es inzwischen zunehmend kritische Stimmen, die vor Fehleinschätzungen in der Patientenbehandlung, resultierend aus diesen Diskussionen, warnen [10, 11]. Weiterhin wird es von vielen Expertinnen und Experten als problematisch angesehen, dass es bislang keinerlei strukturierte Datenbasis in Form eines flächendeckenden Rettungsdienst- oder Notfallregisters sowie kein systematisches Qualitätsmanagement gibt, das beispielsweise den Anteil an Einsätzen, die niedrigprioritäre Hilfeersuchen oder sogar tatsächliche Fehleinsätze darstellen, erfasst und analysiert [12]. Dies erscheint auch insofern als problematisch, als allgemein verbreitet bisher ein überproportional starker Anstieg von niedrigprioritären Einsätzen im Rettungsdienst als pathognomonisch für die Gesamtbelastung angesehen wurde, jüngste umfassende Analysen dies für den deutschsprachigen Raum aber nicht zeigen konnten [13, 14].
Inzwischen sind von Expertinnen und Experten viele Vorschläge – einschließlich „Best-Practice“-Beispielen aus dem Ausland – zusammengetragen worden, die dazu beitragen könnten, vermeidbare Notrufe und Einsätze zu reduzieren und darüber hinaus präventive Ansätze in der Notfallversorgung zu verfolgen [15].
Um die zuvor dargestellte Diskussion über die aktuellen Herausforderungen im Rettungsdienst und die zukünftigen Entwicklungen in einen sinnvollen Kontext stellen zu können, ist aus Sicht der Autoren eine objektive und vergleichende Betrachtung der Leistungsparameter und Strukturdaten im deutschen Rettungsdienst dringend erforderlich. Derartige Leistungsanalysen wurden zuletzt lediglich in Auszügen durch die Bundesanstalt für Straßenwesen im Sinne einer Berichterstattung über das Leistungsniveau im öffentlichen Rettungswesen veröffentlicht und beinhalten im Wesentlichen nur die Anzahl der Gesamteinsätze sowie die Notarztbeteiligung, ohne diese sinnvoll in Bezug zu setzen.
Ziel der vorliegenden Analyse ist es, Strukturdaten und technische Anforderungen im deutschen Rettungsdienstwesen bundesweit vergleichend darzustellen. Hieraus abgeleitet werden konkrete Empfehlungen und Möglichkeiten für die Weiterentwicklung und Reform des Rettungsdiensts in Deutschland auch anhand der zuletzt eingebrachten Stellungnahmen und Gutachten diskutiert.
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Material und Methoden
Zur länderübergreifenden Erhebung von Leistungs- und Strukturparametern im Rettungsdienst wurde im Zeitraum von Juni 2022 bis Oktober 2022 eine E‑Mail-basierte Befragung in den bevölkerungsreichsten Gebietskörperschaften Deutschlands durchgeführt.
Hierzu wurden mehrere Gebietskörperschaften identifiziert mit dem Ziel, im Sinne einer Stichprobe ein größtmögliches Maß an Repräsentativität für den deutschen Rettungsdienst und Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Nach folgenden vorab definierten Einschlusskriterien konnten Gebietskörperschaften aus zwei Hauptgruppen für die Befragung identifiziert werden:
1.
Gruppe „Großstädte“: Alle Städte und Stadtstaaten der Bundesrepublik Deutschland mit einer Bevölkerungszahl über 500.000 (Ballungsräume)
2.
Gruppe „Landkreise“: Die jeweils einwohnerstärksten Landkreise aller Bundesländer
Die Gruppe der eingeschlossenen „Großstädte“ umfasste zusammen insgesamt eine Bevölkerung von 14.231.609 Einwohner. Die Gruppe der eingeschlossenen „Landkreise“ umfasste zusammen insgesamt eine Bevölkerung von 7.322.738 Einwohner. Mit insgesamt 21.554.347 Einwohnern umfassen die eingeschlossenen Gebietskörperschaften somit rund ein Viertel der deutschen Gesamtbevölkerung. Die Bevölkerungszahlen wurden auf der Basis der aktuellen Erhebung des statistischen Bundesamts zusammengetragen [16].
Die Befragung bzw. Datenerhebung erfolgte anhand von ausgewählten Fragen zu Strukturparametern, die die strukturellen Rahmenbedingungen, aber auch Notruf- und Einsatzzahlen, vorgehaltene Einsatzmittel sowie Strukturen und Prozesse in den Leitstellen umfassen. Weiterhin wurden Daten zur Frage erhoben, ob Gebühren oder Entgelte zur Finanzierung des Rettungsdiensts zur Anwendung kommen (Tab. 1).
Tab. 1
Im Rahmen der Erhebung abgefragte Daten
Strukturdaten
Leitstelle
Abrechnung
Anzahl RTW (Tag)
Anzahl RTW (Nacht)
System der Notrufabfrage (standardisiert, softwarebasiert und strukturiert, strukturiert, freihändig/kein festes System)
System der Vergütung von Rettungsdienstleistungen (Gebühren/Entgelt/beides [Entgelte und Gebühren])
Anzahl RTH & ITH (Tag) (in Zuständigkeit der eigenen Leitstelle)
Anzahl RTH/ITH (Nacht) (in Zuständigkeit der eigenen Leitstelle)
Technische Schnittstelle zur Weitergabe von Notrufen an KV besteht (ja/nein)
Abrechnungsposition für RD-Behandlungen ohne Transport ins KH besteht (ja/nein)
Anzahl NEF (Tag)
Anzahl NEF (Nacht)
Nutzung von AML (Advanced-Mobile Location = Anrufendenortung)
(ja/nein)
Eigene Abrechnungsposition für die Bearbeitung von Notrufgesprächen (ja/nein)
Anzahl ITW (Tag)
Anzahl ITW (Nacht)
Automatische Alarmierung von Reanimationshelfenden via App aus Einsatzleitsystem (ja/nein)
Anzahl KTW (Tag)
Anzahl KTW (Nacht)
Nutzung digitaler Dokumentation auf den Einsatzfahrzeugen
(ja/nein)
Notrufe pro Tag
(im Jahresmittel)
Georeferenzierte Alarmierung des jeweils am nächsten zum Einsatzort verfügbaren Einsatzmittels bzw. Berechnung der günstigsten Eintreffzeitprognose
(ja/nein)
RD-Einsätze pro Tag (im Jahresmittel)
Verfügbarkeit Telenotarzt (nein, Teilzeit, rund um die Uhr)
Anzahl weitergegebener Anrufe an KV (116117) pro Tag (im Jahresmittel)
Die Kontaktaufnahme und Bitte um Beteiligung an der Umfrage erfolgte per E‑Mail mit einem erklärenden Anschreiben. Hierzu wurde allen Adressaten eine Excel-Tabelle zur Bereitstellung der Daten übermittelt. Eine wiederholte Aufforderung zur Teilnahme oder Vervollständigung der Antworten erfolgte, wenn erforderlich, bis zu dreimal. Die Kontaktaufnahme erfolgte hierbei sowohl schriftlich als auch telefonisch. Ergänzend wurde im Einzelfall zur Bereitstellung der Daten auf das Informationsfreiheitsgesetz verwiesen. Als Adressaten der Umfrage wurden die verantwortlichen Träger des Rettungsdiensts, vertreten durch die zuständigen Ärztlichen Leitungen Rettungsdienst der jeweiligen Gebietskörperschaften, kontaktiert. Dort, wo Rettungsdienstbereiche oder Zuständigkeiten auch andere Gebietskörperschaften miteinschließen, wurden soweit in der Sache möglich alle Daten nach Gebietskörperschaften getrennt erhoben.
Bei den „Großstädten“ erfüllten 14 Gebietskörperschaften die Einschlusskriterien, bei den „Landkreisen“ waren dies 13 Gebietskörperschaften, sodass insgesamt 27 Gebietskörperschaften eingeschlossen worden sind und mittels Anschreiben zur Übermittlung der Daten aufgefordert wurden. Die 3 Stadtstaaten wurden der Gruppe der Großstädte zugeordnet.
Die rückläufigen Daten wurden in Microsoft Excel überführt (Version 2202 Build 16.0.14931.20806, Microsoft Corporation, Redmond, WA, USA), nach amtlichen Gemeindeschlüsseln zugeordnet und ausgewertet. Im Rahmen der initialen Betrachtung der Datensammlung wurden im Sinne einer Plausibilitätsprüfung bei allen Datenpunkten mit Abweichung über 2 Standardabweichungen vom Mittelwert (zur Vergleichbarkeit jeweils gerechnet auf 100.000 Einwohner) oder bei anderweitig festgestellten Unstimmigkeiten die jeweiligen Rettungsdienstträger erneut kontaktiert.
Im Ergebnis erfolgte eine deskriptive Darstellung der gesammelten Daten mit Darstellung von Streuungsmaßen (Minimum, Maximum, Mittelwert, Median, Standardabweichung). Für ausgewählte Parameter wurde eine Varianzanalyse (ANOVA) durchgeführt. Unterschiede wurden mittels Kruskal-Wallis-Test untersucht, gefolgt von einer Post-hoc-Analyse mithilfe des Dunn-Tests.
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Ergebnisse
Der Rücklauf in den zuvor genannten Gruppen Landkreise und Großstädte liegt abschließend bei 19/27 angefragten Gebietskörperschaften und somit bei 70,4 %. Dies setzt sich zusammen aus einem Rücklauf in der Gruppe der Landkreise von 53,8 % (7/13; hiervon vollständig ausgefüllte Fragebögen in 80 %) und in der Gruppe der Großstädte mit über 500.000 Einwohner einem Rücklauf von 85,7 % (12/14; hiervon vollständig ausgefüllte Fragebögen in 33,3 %).
Schlussendlich konnten jedoch Antworten von insgesamt 50 ÄLRD beziehungsweise Rettungsdienstträgern erfasst werden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ausgehend von den ursprünglich angefragten Adressaten der Umfrage eine Weiterleitung auch in weitere Regionen stattfand. Somit antworteten auch Rettungsdienstbereiche auf die Erhebung, die zuvor nicht in die Umfrage eingeschlossen werden sollten und so keiner der beiden Hauptgruppen zugeordnet worden sind. Im Ergebnis wurden somit neben den im Methodenteil genannten Gruppen Großstädte (n = 12) und Landkreise (n = 7) im Rahmen der Ergebnisauswertung alle erfassten Antworten in einer weiteren Gruppe Gesamt (n = 50) betrachtet. Von den weiteren rückmeldenden Gebietskörperschaften antwortete ein „Zweckverband“ repräsentativ für das gesamte Bundesland Saarland. Dies ist dadurch erklärbar, dass für das gesamte Bundesland eine Ärztliche Leitung Rettungsdienst institutionalisiert ist und darüber hinaus auch die Notrufe gesammelt in einer integrierten Leitstelle angenommen werden.
Um die Repräsentativität der Arbeit zu wahren, wurden schließlich die Erhebungsergebnisse zu den Strukturdaten primär nach den Gruppen Großstädte und Landkreise ausgewertet und die weiteren Leistungsparameter (Leitstelle, Abrechnung) bezogen auf das Gesamtkollektiv dargestellt.
Im Ergebnis ist festzustellen, dass in deutschen Rettungsleitstellen pro Tag (24 h) im Mittel in Großstädten 80,22 Anrufe/100.000 Einwohner eingehen, in Landkreisen 65,80 Anrufe/100.000 Einwohner (Gruppe „Gesamt“ Mittelwert [MW]: 71,13). Demgegenüber stehen 52,15 Einsätze/100.000 Einwohner des Rettungsdiensts in Großstädten sowie 48,88 Einsätze/100.000 Einwohner in Landkreisen (Gruppe „Gesamt“ MW: 44,07/100.000 gesamt).
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Die Vorhaltung von Rettungswagen (RTW) beträgt in Großstädten tagsüber (alles Folgende pro 100.000 Einwohner) 4,60 und nachts 3,13 sowie in Landkreisen tagsüber 7,32 und nachts 5,40 (Gesamt 6,36 tagsüber und 4,53 nachts). Die Vorhaltung von NEF beträgt in Großstädten tagsüber 1,04 und nachts 0,84. In Landkreisen werden im Mittel tagsüber 1,67 NEF vorgehalten und nachts 1,47 auf 100.000 Einwohner (Gesamt 1,50 tagsüber und 1,30 nachts; alles MW, Näheres s. Online-Zusatzmaterial).
Die Vorhaltung von RTW und NEF in Landkreisen weist insbesondere im Vergleich zu Großstädten eine hohe Spannweite auf (Abb. 1). Weiterhin zeigt sich auch, dass die Anzahl der Rettungsdiensteinsätze gerade in Großstädten stark variiert. Außerdem lässt sich erkennen, dass die Anzahl der vorgehaltenen RTW und NEF sowie die Anzahl der Notrufe und Einsätze pro Tag ungeachtet der zuvor genannten Unterschiede mit der Einwohnerzahl korrelieren (Abb. 2 und 3).
Abb. 1
Vorhaltung von Rettungsmitteln und Notrufe nach Einwohnerzahl, Großstädten und Landkreisen im Vergleich. Mittelwert dargestellt als „X“, Median als Linie
Abb. 2
Korrelation Vorhaltung RTW mit der Einwohnerzahl
Abb. 3
Korrelation Notrufe in 24 h mit der Einwohnerzahl
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Abb. 4 stellt die Ergebnisse der übrigen Befragung grafisch dar. In der vorliegenden Untersuchung wurden weiterhin auch Daten zur Art der Notrufabfrage in den Leitstellen erhoben. Dabei wurde entsprechend der aktuellen Literatur zwischen einer freihändigen, einer strukturierten und einer standardisierten Notrufabfrage unterschieden [17, 18]. Unter einer freihändigen Notrufabfrage ist dabei eine Abfrage des Notrufs ohne Anwendung technischer Hilfsmittel oder technischer Vorgaben zur Gesprächsführung zu verstehen. Bei einer strukturierten Notrufabfrage erfolgt das Gespräch unter Anwendung eines unverbindlichen Gesprächsleitfadens, gegebenenfalls in Form einer unterstützenden Software, während unter einer standardisierten Notrufabfrage eine verbindliche softwaregeführte, qualitätsgesicherte, personenunabhängige und reproduzierbare Abfrage zu verstehen ist [19, 20]. Bei den erhobenen Leistungsparametern konnte festgestellt werden, dass eine softwarebasierte und standardisierte Notrufabfrage nur in 29 % der Leitstellen implementiert ist, eine softwarebasierte und strukturierte Abfrage wird in 39 % angewendet, eine rein strukturierte Abfrage wird in 18 % der Leitstellen genutzt. In 14 % wird gänzlich ohne Vorgabe, also freihändig abgefragt.
Abb. 4
Rettungsdienstliche Leistungsparameter
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Im Kruskal-Wallis-Test zeigt sich hier ein Zusammenhang zwischen der Anzahl der im Mittel vorgehaltenen NEF und der Art der Notrufabfrage (p = 0,015). Die Durchschnittswerte für die Anzahl der NEF pro 100.000 Einwohner in Bezug auf die verschiedenen Typen der Notrufabfrage zeigt Tab. 2. Eine freihändige Notrufabfrage hat den größten Einfluss auf die Anzahl der vorgehaltenen NEF pro 100.000 Einwohner. Rettungsdienstbereiche, in denen Notrufe freihändig abgefragt werden, halten dabei im Mittel im Vergleich zu Rettungsdienstbereichen, in deren Leitstellen softwarebasiert-standardisiert abgefragt wird, eine signifikant höhere Anzahl an NEF vor (Dunn-Test, p < 0,01).
Tab. 2
Zusammenhang zwischen Art der Notrufabfrage und Vorhaltung von Notarzteinsatzfahrzeugen (NEF) mit Mittelwerten
Art der Notrufabfrage
Vorhaltung NEF
Softwarebasiert und standardisiert
1,183 NEF/100.000 Einwohner
Softwarebasiert und strukturiert
1,585 NEF/100.000 Einwohner
Strukturiert
1,302 NEF/100.000 Einwohner
Freihändig
2,015 NEF/100.000 Einwohner
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Die Möglichkeit zur Konsultation eines Telenotarztes besteht vollumfänglich in 12 % der abgefragten Leitstellen, in 4 % ist dieser in Teilzeit erreichbar und in 84 % ist bislang kein Telenotarzt etabliert. Eine Ersthelfer-App ist in 42 % aller Rettungsdienstbereiche implementiert. Lediglich in 16 % ist eine technische Schnittstelle zur Übergabe von Datensätzen an die kassenärztliche Vereinigung über das Einsatzleitsystem vorhanden. Eine digitale Einsatzdokumentation ist in 72 % eingerichtet und nutzbar. In Bezug auf die Fragen zur Abrechnung zeigt sich, dass die Möglichkeit zur Erhebung einer Gebühr bzw. eines Entgelts für ein Notrufgespräch nur bei 21 % der Befragten besteht. Weiterhin können 56 % der Befragten Rettungsdiensteinsätze ohne Transport (z. B. ambulante Versorgung) nicht abrechnen.
Diskussion
Fehlende und heterogene Datenerfassung
Vor dem Hintergrund der unübersichtlichen und heterogenen föderalen Strukturen wurde bislang davon ausgegangen, dass eine einheitliche, länderübergreifende und exakte Erhebung und Auswertung von wichtigen Parametern des Rettungsdiensts in Deutschland, wie zum Beispiel von Einsatzzahlen und -spektrum, nicht oder nur schwer möglich ist [1, 3]. Eine länderübergreifende zusammenfassende Erhebung von umfassenden Strukturparametern des Rettungsdiensts in Deutschland ist in der Literatur bislang nicht zu finden. Auch im Rahmen dieser Abfrage wurde ein Großteil der Fragebögen entweder nicht beantwortet oder nicht vollständig ausgefüllt. Es zeigte sich im persönlichen Kontakt mit Rettungsdienstbereichen ausgesprochen häufig, dass selbst intern zu mehreren abgefragten Bereichen keinerlei Daten erhoben, geschweige denn ausgewertet wurden. In anderen Fällen fiel regelmäßig auf, dass unterschiedliche Definitionen und Zählweisen wichtiger Kernparameter zwischen den Rettungsdienstbereichen genutzt werden. Die Definition und Zählung eines „Rettungsdienst-Einsatzes“ beispielsweise zeigte ein Spektrum von „Ein Ereignisort“ bis hin zu jeder „Alarmierung eines Rettungsmittels“. Es lassen sich aus genannten Gründen in dieser Arbeit und allgemein derzeit nur sehr eingeschränkte Aussagen im Rahmen von bundesweiten Vergleichen wichtiger Kernelemente der Struktur, Organisation und Qualität von Rettungsdienstbereichen treffen.
Rettungsdienstliche Versorgung in Deutschland
Durch die primäre Gesetzgebungskompetenz der Länder für den Rettungsdienst sind Strukturen, Prozesse sowie damit einhergehende Vorgaben auf Landesebene oder auch auf kommunaler Ebene geregelt [21, 22]. Hierbei gilt, dass im Gegensatz zu anderen Bereichen des Gesundheitssystems der Rettungsdienst trotz umfassender Erstattungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung bislang nicht differenziert im Sozialgesetzbuch V verankert ist. Somit sind kaum bundesweit einheitliche Standards oder bundeseinheitliche Vorgaben zur Qualitätssicherung implementiert. Vielfach wird in politischen Auseinandersetzungen darauf verwiesen, dass der Rettungsdienst als gewachsener Bestandteil der Gefahrenabwehr anzusehen sei. Tatsächlich sind die Aufgaben des Rettungsdiensts seit vielen Jahrzehnten längst weniger im Bereich der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung als vielmehr in der Gesundheitsversorgung zu sehen. Anders als in der Gefahrenabwehr ist das Ziel des Rettungsdiensts nicht die Beseitigung externer Gefahren (juristisch zuvorderst als „Störer“ bezeichnet), sondern die fachgerechte, notfallmedizinische Versorgung von Patientinnen und Patienten [23].
Nach den vorliegenden Daten ist weiterhin eine Abrechnungsposition zur Rettungsdienstbehandlung vor Ort noch nicht flächendeckend vorhanden. Eine Behandlung von Notfallpatientinnen und -patienten am Einsatzort mit Verzicht auf einen Krankenhaustransport stellt ebenso wie ein Transport in eine weiterführende Versorgungseinrichtung einen integralen Bestandteil der rettungsdienstlichen Versorgung dar und kann in vielen Fällen aus medizinischer Sicht eine sinnvolle abschließende Behandlung gewährleisten. Die Behandlung vor Ort spielt insbesondere aus der Systemperspektive eine entscheidende Rolle, in Anbetracht der angespannten Versorgungskapazitäten von Krankenhäusern und deren Notfallzentren.
Vorhaltung von Rettungsmitteln
Schon heute zeigen sich nicht nur in der vorliegenden Auswertung große Unterschiede in der Vorhaltung und Einsatzhäufigkeit einzelner Rettungsmittel in Deutschland. Im „Rettungsdienstbericht Bayern“ werden beispielsweise schon seit Jahren ähnliche Zahlen in den Trend- und Strukturanalysen (TRUST) berichtet [7]. Sie beruhen auf Auswertungen von Daten aus integrierten Leitstellen aller 26 bayrischen Rettungsdienstbereiche und liegen im selben Bereich wie die vorliegenden berichteten Zahlen. Die rettungsdienstlichen Vorhaltezahlen variieren gravierend zwischen einzelnen Landkreisen. Neben der örtlichen Bevölkerungsdichte spielen Einflussfaktoren wie beispielsweise die Straßeninfrastruktur und eine Häufung von Einsatzschwerpunkten eine Rolle. Auch zwischen Großstädten gibt es jenseits dieser Einflussfaktoren erhebliche Unterschiede. So berichtet etwa die Stadt Köln, inzwischen anhand der Rettungsdienstbedarfsplanung beziehungsweise im Ergebnis von Modellberechnungen 88 Rettungswagen für die rund eine Million Einwohner und 160.326 Einsätze ab dem Jahr 2024 in der Stadt vorhalten zu müssen. Übertragen auf Berlin würde dies einer Vorhaltung von 330 Rettungswagen und 602.064 Einsätzen entsprechen [24]. Tatsächlich wurden im Jahr 2022 in Berlin lediglich 140 Rettungswagen vorgehalten und 474.681 Einsätze absolviert [25, 26]. Derartige Unterschiede in der Struktur der präklinischen Notfallversorgung in Deutschland könnten neben einem unterschiedlichen Aufgabenspektrum (am Beispiel Berlin etwa die Trennung von Notfallrettung und Krankentransport) auch dadurch beeinflusst sein, dass die Rettungsleitstelle Berlin wie inzwischen fast alle anderen europäischen Großstädte mit einem international validierten und standardisierten Notrufabfragesystem arbeitet, während viele andere Leitstellen in Deutschland bisher kein derartiges Abfragesystem verwenden [19]. Die vorliegende Arbeit liefert für Deutschland außerdem erstmals Hinweise, dass die Art des Abfragesystems (softwarebasiert-standardisierte, qualitätsgesicherte, evidenzbasierte Notrufabfrage) Einfluss auf den Bedarf an Rettungsmitteln respektive NEF haben könnte. Um die Vorteile einer standardisierten Notrufabfrage mit verbesserter Klassifizierung von Hilfeersuchen ausschöpfen zu können, müssen neben etablierten Rettungsmitteln auch neue Versorgungsstrukturen etabliert werden [20]. Eine Integration telemedizinischer, telenotärztlicher, pflegerischer und notfallpsychiatrischer Angebote ist insbesondere von Vorteil [2, 5, 19].
Steigende Einsatzzahlen
Die Einsatzzahlen im Rettungsdienst sind ausweislich der Gesundheitsberichterstattung des Bundes jährlich um etwa 5 % angestiegen, wobei die Zunahme im ländlichen Bereich zuletzt sogar bei 8 % lag [3]. Als ursächlich für die gestiegene Inanspruchnahme der Notfallversorgung wird neben dem demografischen Wandel, der zweifelsfrei nur ansatzweise die Zunahme der Einsatzzahlen erklärt, insbesondere die fehlende Verfügbarkeit und ineffektive Koordination von geeigneteren Versorgungsalternativen angesehen. Hieraus entsteht eine Gleichzeitigkeit von Fehl‑, Über- und Unterversorgung. Neben diesen Entwicklungen kann auch eine Veränderung des Einsatzspektrums innerhalb der Notfallrettung nachvollzogen werden. So steigt der Anteil nichttraumatologischer Einsatzanlässe an. Weiterhin wird beobachtet, dass Hilfeersuchen im Zusammenhang mit schweren und lebensbedrohlichen Ereignissen absolut gesehen zunehmen [3].
Ausbildung und Weiterbildung
Ausbildung und Voraussetzungen zum Erwerb von Berufsbezeichnungen im Rettungsdienst, wie etwa der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin, und die damit einhergehende Erlaubnis, als Notärztin oder Notarzt oder Telenotärztin oder Telenotarzt im Bereich des Rettungsdiensts zu arbeiten, unterscheiden sich maßgeblich zwischen den Ländern [6, 17, 18]. Die Ausbildungsinhalte von Rettungssanitäterinnen und -sanitätern obliegen derweil in manchen Bundesländern gar den Ausbildungsträgern bzw. Rettungsdienstschulen, da kein bundeseinheitliches Ausbildungsgesetz existiert [27]. Weiter liegt die Ausgestaltung rettungsdienstlicher Prozesse im Detail oftmals bei den einzelnen Kommunen: Dies betrifft unter anderem die Vorgaben für die interne Leitstellenorganisation und auch einsatztaktisch relevante Regelungen einschließlich verbindlicher (medizinischer) Arbeitsanweisungen für Rettungsdienstfachpersonal. Diese Vorgaben werden letztendlich von den für den jeweiligen Rettungsdienstbereich zuständigen Ärztlichen Leitungen Rettungsdienst (ÄLRD) festgelegt, wobei die genaue Anzahl an in Deutschland tätigen ÄLRD öffentlich nicht bekannt ist und in manchen Regionen Deutschlands selbst eine solche übergeordnete ärztliche Leitung nicht als feste Stelle existiert [28, 29]. In Baden-Württemberg ist die Funktion einer ÄLRD auf kommunaler Ebene nicht vorgesehen, sondern wird als übergeordnete Stelle in den Regierungspräsidien verankert. Stattdessen sind die detaillierte personelle und materielle Ausstattung der Rettungsmittel, Anzahl und Standorte von Rettungswachen sowie einsatztaktische und medizinische Vorgaben für den täglichen Einsatzdienst Gegenstand des Austauschs zwischen den am Rettungsdienst Beteiligten bzw. werden in einem Bereichsausschuss vereinbart [30]. Versuche bundesweiter Vorgaben erreichen ohne Abstimmung mit den relevanten Akteuren im Rettungsdienst und bei einer fehlenden gesetzlichen oder untergesetzlichen Regelung keine bundesweite Umsetzung. Als Beispiel sei hier der zuletzt im Oktober 2023 überarbeitete Notarztindikationskatalog der Bundesärztekammer genannt. Dieser sieht im Gegensatz zu vielerorts üblichen Dispositionsrichtlinien von Leitstellen eine höhere Notwendigkeit zur Entsendung von NEF vor und berücksichtigt das neue Berufsbild des Notfallsanitäters mit den dazugehörigen Kompetenzen in der notfallmedizinischen Versorgung nur unzureichend, woraufhin deutliche Kritik seitens notfallmedizinischer Fachgesellschaften folgte [31].
Notwendige Weiterentwicklungen
Insgesamt lassen sich durch die vorliegende Arbeit, wissenschaftliche Literatur oder jüngst auch Recherchen der öffentlich-rechtlichen Medien keine eindeutigen Belege für die überlegene „weltweit beispielhaft hoch entwickelte [präklinische] Notfallmedizin“ Deutschlands finden, wie sie auf vorrangig deutschen Kongressen propagiert wird und dabei sowohl im In- als auch Ausland bei systemkundigen Kolleginnen und Kollegen für Verwirrung sorgt [32‐35]. Vor diesem Hintergrund erscheint es zielführend, eine regelhafte landeseinheitliche Bedarfsplanung und Qualitätssicherung landesrechtlich zu verankern, was als Empfehlung auch Gegenstand eines aktuellen Gutachtens der Bertelsmann- und Björn-Steiger-Stiftung ist [7]. Landes- oder bundesweite Rettungsdienstregister können hier einen entscheidenden Beitrag leisten. Damit einhergehend müssen auch Kennzahlen und Begrifflichkeiten vereinheitlicht werden, um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Wertvolle Ideen und Empfehlungen wurden bereits im Eckpunktepapier zur notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung in der Prähospitalphase und der Klinik publiziert, eine flächendeckende Umsetzung ist jedoch weiterhin nicht erkennbar [36]. Die Etablierung eines bundesweiten Rettungsdienstkerndatensatzes (aufbauend beispielsweise auf dem MIND-Datensatz) respektive der Aufbau eines Rettungsdienstregisters durch die Sozialversicherungen (analog § 21-Datensatz des Krankenhausentgeltgesetzes) erscheint zur Verbesserung der Transparenz sinnvoll. In diesem Zusammenhang muss nebst Datenerfassung im Sinne des Qualitätsmanagements auch eine entsprechend durchdachte (möglichst sektorenübergreifende) Datenauswertung erfolgen, um eine permanente Feinjustierung des Systems zu ermöglichen.
Eine weitere Professionalisierung der präklinischen Notfallmedizin durch Kompetenzerweiterung des eingesetzten Rettungsfachpersonals, den einheitlichen Ausbau von evidenzbasierten Mindeststandards durch Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote sowie Förderung der Rettungswissenschaften erscheint zielführend [7]. Hierbei sollten auch die Voraussetzungen und verpflichtende Ausbildungs- sowie Weiterbildungsinhalte für ärztliches Rettungsfachpersonal nicht außen vor gelassen werden, um eine flächendeckend standardisierte hochwertige Qualität im Notarztwesen, insbesondere bei besonderen Einsatzanlässen, zu erzielen [18, 37]. Es gilt in diesem Zusammenhang, Qualität und Leistungsfähigkeit des Rettungswesens stets auch im internationalen Vergleich zu betrachten und die wissenschaftliche Fokussierung nicht nur auf isolierte Kompetenzen wie etwa die endotracheale Intubation in Deutschland zu beschränken. So werden in einer aktuellen Publikation First-pass-success-Raten in Deutschland deutlich unter dem Niveau benachbarter Länder mit spezialisiertem Paramedic-System berichtet [38]. Es fällt eine Nutzung von Videolaryngoskopie, wie sie auch in Leitlinien gefordert wird, in nur 6 % der Fälle auf – trotz Verfügbarkeit der Technik [39]. Die höchsten in Deutschland publizierten First-pass-success-Raten durch notärztliches Personal sind in standardisierten Simulationssettings unter Nutzung von Videolaryngoskop mit Bougie zu finden [40].
Folgen für die politische Debatte
Durch das derzeitige Fehlen einer soliden, flächenübergreifenden und regelmäßig aktualisierten Datengrundlage sind sowohl die Problemidentifizierung als auch die Kontrolle der Wirkung von Gesetzesänderungen im Bereich des Rettungswesens kaum möglich. Der letzte Versuch einer umfassenden Regelung aus dem Bundesministerium für Gesundheit im Jahr 2020 scheiterte nicht nur an der notwendigen Anpassung des politischen Fokus zur Pandemiebekämpfung. Die Zuständigkeitsdiffusion und Konflikte zwischen Bund, Land und Kommune im Bereich Rettungsdienst sowie teilweise völlig entgegengesetzte Interessen der beteiligten (medizinischen) Verbände und Gruppen hemmten ein Vorankommen. Seitdem ist allerdings die Notwendigkeit einer Reform auf Bundesebene im Bereich Rettungsdienst und Notfallversorgung um ein Vielfaches gestiegen. Ein jüngst veröffentlichtes Gutachten verstärkt dies: Jenseits der Zuständigkeit von Ländern und Kommunen für den Rettungsdienst im Konkreten sei es die verfassungsgemäße Aufgabe des Bundes, für eine bundesweit einheitliche Qualität der Notfallrettung zu sorgen, zum Schutz von Leben und Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger [41]. Zusammen mit dem Legislaturwechsel Ende 2021, dem Wegfall des politischen Fokus auf Pandemiebekämpfung und damit einhergehender Kapazitätsengpässe für Themen jenseits der SARS-CoV-2-Krisenbewältigung eröffnet sich nun ein Fenster für ein erneutes Reformvorhaben. Die aktuellen Regierungsparteien haben sich hierbei schon früh auf eine evidenzgeleitete Politik verständigt. Was bleibt, ist die Problematik der fehlenden Basisdatenlage – nicht nur im Gesundheitssektor. Dies bedingt derzeit für die Er- bzw. Überarbeitung von Reformvorschlägen eine Fokussierung auf diejenigen Anpassungen in der Struktur der Notfallversorgung, die bereits eine wissenschaftlich fundierte Grundlage aufweisen und hierdurch z. B. mithilfe von Anreizen bundesweit umsetzbar sind. Als Beispiele seien an dieser Stelle die Weiterentwicklung der Prozesse und Strukturen in den Leitstellen genannt. Die Regierungskommission hat mit der 9. Stellungnahme zur Reform der Notfall- und Akutversorgung wertvolle Vorschläge gemacht, die Anforderungen an Struktur‑, Prozess- und Ergebnisqualität sowie die Aufnahme des Rettungsdiensts als eigenes Leistungssegment in den § 27 Abs. 1 des SGB V beinhalten [2].
Limitation der Umfrage
Der für die vollumfassende Datenauswertung schlussendlich gewählte Datensatz mit 50 Rettungsdienstbereichen stellt im Gegensatz zu den im Methodenteil genannten Gruppen „Großstädte“ und „Landkreise“ keine vorab definierte Probe mehr dar und ist aufgrund der fehlenden Vorauswahl anfälliger für statistische Verzerrungen. Mögliche Besonderheiten der untersuchten Regionen mit Auswirkung auf die Rettungsdienststruktur (z. B. Infrastruktur, Topografie) wurden bei der Auswertung nicht berücksichtigt. Eine Überrepräsentation von Rettungsdienstbereichen in NRW innerhalb der Gruppe „Gesamt“ ist erkennbar. Insgesamt zeigt die vorliegende Arbeit die dringende Notwendigkeit von einheitlichen, klar definierten Kennzahlen. Einer Verzerrung der Ergebnisse dieser Arbeit durch unterschiedliche Definitionen von Parametern auf Seite der Befragten konnte zwar in mehreren Fällen identifiziert und verhindert werden, ist aber weiterhin möglich. Insbesondere kann nicht abschließend und vollumfänglich zwischen Notrufen und sonstigen Anrufen sowie zwischen Einsätzen des Rettungsdienstes in Gänze und alleinigen Einsätzen der Notfallrettung differenziert werden. Weitere Forschungsarbeiten sind erforderlich, um einen detaillierteren und systematischen Überblick über die gesamte Strukturqualität des Rettungsdiensts in Deutschland vorlegen zu können. Die Inkonsistenz in der Erfassung und Definition von Daten kann hierbei nicht nur die aktuelle, sondern auch zukünftige Forschungsarbeiten erheblich behindern, da sie eine Vergleichbarkeit und Generalisierbarkeit von Studienergebnissen über die Zeit und zwischen verschiedenen Regionen erschwert.
Fazit für die Praxis
Die vorliegende Untersuchung der Strukturparameter des Rettungswesens in Deutschland zeigt deutlich, dass dringender Reformbedarf für einheitliche Regelungen zur kontinuierlichen, flächendeckenden Erhebung von Strukturdaten im Rettungsdienst mit Vereinheitlichung der Begrifflichkeiten besteht. Die erheblichen regionalen Unterschiede in der Ausgestaltung des Rettungsdiensts, die zunehmende Belastung durch steigende Einsatzzahlen und der Fachkräftemangel erfordern eine Neuausrichtung der Notfallversorgung. Ein deutschlandweiter Vergleich der Strukturqualität zwischen verschiedenen Rettungsdienstbereichen ist aufgrund der fehlenden und heterogenen Datenerfassung aktuell nicht oder nur schwer möglich. Die vorliegende Analyse liefert neben dieser Problemidentifikation erstmals Richtzahlen für eine dringend notwendige einheitliche Datenbasis, die als Ausgangspunkt für eine kontinuierliche, evidenzbasierte Weiterentwicklung und Qualitätssicherung im Bereich der präklinischen Notfallmedizin dienen sollte. Die vorliegenden Daten zeigen außerdem Hinweise, dass durch den Einsatz von evidenzbasierten, qualitätsgesicherten, standardisierten Notrufabfragesystemen in Deutschland mindestens die Vorhaltung von Notarzteinsatzfahrzeugen reduziert werden könnte. Eine standardisierte Notrufabfrage und einheitliche Patientensteuerung, bundeseinheitliche Strukturqualitätsvorgaben, die Integration telemedizinischer, pflegerischer und notfallpsychiatrischer Angebote und eine verbesserte Koordination von medizinischen Akutfällen mit den kassenärztlichen Vereinigungen sind entsprechend der diskutierten Literatur wesentliche Schritte, um die Effizienz und Wirksamkeit des Rettungsdiensts zu erhöhen. Dies ist eine notwendige Grundlage für eine nachhaltige, patientenzentrierte und effiziente Notfallversorgung, die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen gerecht werden kann.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
J. Wolff, F. Breuer, C. Pommerenke und J. Dahmen geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Dieser Beitrag enthält kein Bildmaterial, durch das Patienten zu identifizieren wären.
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