Im nächsten Schritt gilt es die Risiken zu identifizieren (Abb.
6.1). Praktische proaktive Instrumente des Risikomanagements zur Identifikation von Risiken sind beispielsweise Fehlermeldesysteme, ein strukturiertes Lob- und Beschwerdemanagement, Szenario-Analysen, Befragungen von Mitarbeitern, Kooperationspartnern, Angehörigen oder Bewohnern. Als reaktiven Ansatz zur Identifikation von Risiken können unter anderem Instrumente wie die regelhafte strukturierte Analyse unerwünschter Ereignisse (z. B. Stürze) anhand der Systematik des »Learning from Defects-Tool« (LFD-Tool) (Hoffmann und Frei
2017), retrospektive Behandlungszwischenfall-Analysen mittels »ERA« (Error & Risk Analysis) (Zala-Mezö et al.
2007; Herold
2015) oder die systematische Betrachtung bestimmter Versorgungsprozesse durch Gefährdungsanalysen (Austrian Standards Institute
2014) eingesetzt werden. Auch die Ergebnisse von Qualitätsmanagement-Aktivitäten wie internen oder externen Audits, Ergebnisse der Prüfungen zur Qualitätssicherung durch den MDK oder Begehungen durch beispielsweise das Gesundheitsamt oder Brandschutzsachverständige bieten Informationen, die zur Risikoidentifikation herangezogen werden können. Fehlermeldesysteme, ein strukturiertes Lob- und Beschwerdemanagement und die Gefährdungsanalyse werden im Folgenden beispielhaft beschrieben.
Fehlermeldesysteme
Die Etablierung von Fehlermeldesystemen ist in Krankenhäusern seit 2013 gesetzlich vorgeschrieben. Ein umgesetztes System muss die Anonymität von Mitarbeitern und Patienten gewährleisten. Weiter dürfen aus gemeldeten Fehlern oder Beinahe-Fehlern einzelnen Mitarbeitern keine negativen Konsequenzen entstehen. Der Zugang zu diesen Systemen muss niederschwellig sein (Gemeinsamer Bundesausschuss
2014). In Krankenhäusern haben sich sogenannte Critical-Incident-Reporting-Systeme (CIRS) etabliert. Hier werden durch die Mitarbeiter Situationen beschrieben, die beinahe zu einem Schaden hätten führen können, sogenannte kritische Ereignisse (englisch: critical incidents) (Maas und Güß
2014). Angelehnt an »Heinrichs Gesetz«
6 lässt sich aufzeigen, dass einem schweren Schaden 29 leichte Schädigungen und 300 Beinahe-Unfälle (kritische Ereignisse) vorausgehen (von Eiff
2001; Mennigen et al.
2011). Diese kritischen Ereignisse gilt es zu erfassen, um Maßnahmen abzuleiten, die die 29 leichten und den einen schweren Schaden verhindern helfen. Geschützt werden hierdurch nicht nur die betroffenen Patienten, sondern auch eventuell beteiligte Mitarbeiter (second victim) (Gross
2016).
Genutzt werden diese Meldesysteme sowohl einrichtungsintern als auch einrichtungsübergreifend auf Fachgesellschafts-, Länder- oder Bundesebene (z. B. CIRS AINS
7, CIRS-NRW
8 oder CIRSmedical
9). Es gibt aber auch einrichtungsspezifische Meldesysteme unter anderer Bezeichnung.
Aktivitäten wie beispielsweise das Modellprojekt »CIRS in der Pflege« des MDK Bayern zeigen, dass Fehlermeldesysteme erfolgreich in Pflegeeinrichtungen (stationär, teilstationär, ambulant) etablierbar sind (Lehmann et al.
2016). Hierzu muss die Organisationskultur einer Einrichtung ermöglichen, sich zu Fehlern zu bekennen, und ein konstruktives Arbeiten an der eigenen Sicherheitskultur erlauben. Wenn ein Mitarbeiter in der täglichen Arbeit einen Fehler macht, er diesen jedoch rechtzeitig bemerkt und damit drohenden Schaden abwendet, dann wird sein erster Gedanke sein, dass glücklicherweise die Situation glimpflich ausgegangen ist. Allerdings sollte die Reaktion nicht darin bestehen, diese Situation zu verschweigen. Vielmehr sollte das Bewusstsein, dass weiteren Mitarbeitern dieser Fehler ebenfalls unterlaufen könnte, im Sinne der Kollegen, Bewohner und der Organisation dazu führen, dass der Betroffene den Fehler umgehend meldet.
Die Erfassung der Meldungen sollte anhand eines strukturierten Meldeformulars erfolgen. Hier können papiergestützte Instrumente zum Einsatz kommen, wobei elektronische Erfassungssysteme eine Zeitersparnis und übergreifende Vernetzungsmöglichkeiten bieten (Meyer-Massetti et al.
2016). Um die Meldungen im Sinne der Bewohner, der Mitarbeiter und der Einrichtung nutzbar zu machen, muss die Meldungserfassung und eine systematische weitere Bearbeitung geregelt sein. Sowohl Verantwortlichkeiten müssen definiert als auch Ressourcen zur Umsetzung eines Fehlermeldesystems verfügbar gemacht werden. Bei der Bearbeitung sollte berücksichtigt werden, dass für jeden relevanten Bereich die Expertise der jeweiligen Mitarbeiter in die Bewertung der Meldungen einfließen kann. Möglich ist dies beispielsweise über ein zentrales berufsgruppenübergreifendes Auswertungsteam, das in allen Bereichen feste Ansprechpartner für zu klärende Sachverhalte hat. Um die Bewertung der einzelnen Meldungen für die gesamte Einrichtung vergleichbar zu machen, werden einheitliche Bewertungskriterien für Auswirkung und Eintrittswahrscheinlichkeit definiert, die an die klinischen Risikokriterien (Tab.
6.1 und Tab.
6.2) angelehnt sein können.
Zur Analyse von Beinahe-Fehlern oder beinahe eingetretenen Schäden eignet sich das »Ursache-Wirkungs-Diagramm« (Ishikawa-Diagramm). Hoch bewertete Fehler oder eingetretene Schäden können anhand von systematischen Ursache-Analyse-Instrumenten wie dem London-Protokoll analysiert werden (Austrian Standard Institute
2014). Ein Beispiel einer systematischen Fehleranalyse nach dem London-Protokoll wurde vom Aktionsbündnis Patientensicherheit in der Broschüre »Aus Fehlern lernen« aufgeführt. Sie zeigt sehr eindrücklich, dass die Entstehung eines kritischen Ereignisses nicht immer ausschließlich auf die fehlerhafte Handlung eines einzelnen Mitarbeiters reduziert werden kann, sondern dass die Entstehung zumeist eine Verkettung vieler einzelner ungünstiger Umstände auf unterschiedlichen Ebenen ist (Aktionsbündnis Patientensicherheit
2008). Allerdings rückt durch die Neigung, das vordergründig individuelle Fehlverhalten des Mitarbeiters zu betrachten, die Berücksichtigung der systemimmanenten Fehler häufig in den Hintergrund (Gnass
2017).
Je nach Größe einer Einrichtung oder eines Verbundes mehrerer einzelner Einrichtungen kann durch eine hohe Akzeptanz bei den Mitarbeitern eine wertvolle Fülle an Meldungen stimuliert werden, die Hinweise für Handlungsbedarf und Optimierungspotenzial auf Organisationsebene geben. Um die Lösungsansätze der Mitarbeiter nutzbar zu machen, kann im Meldeformular ein entsprechendes Feld für die Beschreibung ergriffener Maßnahmen und Änderungsvorschläge eingefügt werden.
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit hat für den Krankenhausbereich eine Handlungsempfehlung veröffentlicht, in der der Aufbau eines einrichtungsinternen CIRS umfassend beschrieben wird (Aktionsbündnis Patientensicherheit
2016b).
Aus den Foren der einrichtungsübergreifenden Meldesysteme für kritische Ereignisse (s. o.) können nicht nur für die Krankenhäuser Informationen zur Förderung der Versorgungssicherheit der eigenen Patienten entnommen werden. Pflegespezifische Inhalte können auch für Prozesse in Pflegeeinrichtungen von Nutzen sein.
Strukturiertes Lob- und Beschwerdemanagement
Die Wahrnehmung von außen ist für annähernd jedes Unternehmen elementar wichtig. Die Äußerung von Erfahrungen und Feedback zu Leistungen des Hauses durch Angehörige oder Bewohner kann wertvolle Hinweise darauf geben, an welchen Stellen und in welchen Prozessen Optimierungspotenzial besteht.
Damit dieses Feedback jedoch geäußert und nutzbar gemacht werden kann, muss zunächst ein Instrument zu seiner systematischen Erfassung eingerichtet sein. Dabei können sowohl papiergestützte Feedbackbögen als auch elektronische Erfassungssysteme oder Online-Formulare eingesetzt werden. Da Lob und Beschwerden nicht immer anonym sind und seitens der Bewohner oder Angehörigen ein gefühltes Abhängigkeitsverhältnis bestehen kann, ist es wichtig, innerhalb der Einrichtung ein positives, konstruktives Verständnis von Beschwerden zu etablieren. Mitarbeiter können dann deren Wert erkennen und fühlen sich nicht persönlich angegriffen, während potenzielle Beschwerdeführer keine negativen Konsequenzen für sich oder ihre Angehörigen befürchten müssen. Ein solches Verständnis von Beschwerden in der Organisation zu verankern ist Führungsaufgabe.
Die Zuständigkeit für die Bearbeitung von positivem und negativem Feedback kann je nach Einrichtungsgröße bei den Leitungskräften oder bei Beauftragten liegen. Bei Einrichtungsverbünden kann die Etablierung einer zentralen Feedback-Stelle einen Ansatz für die systematische Nutzung der Informationen auf Verbundebene bieten.
Wenn ein Besucher sich positiv über Orientierungssymbole in einem Pflegebereich äußert und in einem anderen Bereich besonders häufig erfasst wird, dass Bewohner nicht in ihr Zimmer zurückfinden, so kann das positive Feedback zur Beschilderung auf ein internes Best-Practice-Beispiel hinweisen. Eine Ortsbegehung kann zeigen, dass ein Team besonders gute Ideen zur Förderung der Orientierung der Bewohner in ihrem Bereich umgesetzt hat.
Werden in einem bestimmten Bereich regelmäßig Beschwerden über die mangelnde Freundlichkeit der Mitarbeiter geäußert, kann gezielt nach den Gründen gesucht werden. Wo besonders häufig die Freundlichkeit der Mitarbeiter positiv hervorgehoben wird, kann ebenfalls eine Ursachenanalyse erfolgen.