Interpretation der Ergebnisse
Das Ziel von EVRALOG-BW ist es zu untersuchen, wie Planungskriterien aussehen können, die eine Berücksichtigung der Patientenbedürfnisse in der logistischen Planung ermöglichen. Durch die Kategorien kann zwischen Patienten differenziert werden. Die Nutzenfunktionen ermöglichen eine kontinuierliche Bewertung des Einflusses der Einsatzzeiten auf die Versorgungsqualität. Dadurch können die Bedürfnisse der Patienten besser in die Planung integriert werden als durch eine Hilfsfrist.
Der vorgestellte Ansatz weist im Vergleich mit dem gestuften Versorgungssystem nach [
12] Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Beide Ansätze zielen darauf ab, die Gestaltung des Rettungsdiensts stärker von differenzierten Patientenbedürfnissen abhängig zu machen. So ist nicht immer die Zeit bis zur Intervention entscheidend, sondern auch eine gezielte Abklärung und Lenkung des Behandlungspfads kann im Vordergrund stehen (vergleiche GVS‑3 nach [
12] und Kategorie 5 nach EVRALOG-BW). Ein Unterschied besteht in der grundsätzlichen Zielsetzung. Bei [
12] liegt der Fokus auf den Einsatzmitteln und Zeitfenstern für die Eintreffzeit. In EVRALOG-BW liegt er darauf, welche Zeiten im Einsatzverlauf für die Patienten relevant sind und wie sie aus Patientensicht bewertet werden können. Dieser verstärkt retrospektive Fokus äußert sich in den Einsatzkategorien 7 und 8, deren Äquivalent in [
12] nicht existiert. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass [
12] auch die äußere Gefahr mit einbezieht, während EVRALOG-BW sich auf den medizinischen Bedarf fokussiert, der in [
12] als innere Gefahr bezeichnet wird. Die Berücksichtigung der äußeren Gefahr ist vorrangig für die Dispositionsentscheidung relevant, eine Einbeziehung im Rahmen einer Operationalisierung der Ergebnisse von EVRALOG-BW widerspricht den erstellten Kategorien nicht. Im Vergleich mit den in [
16] beschriebenen Kategorien liegen die Unterschiede zum einen in der Berücksichtigung der Prähospitalzeit und nicht nur der Eintreffzeit. Zum anderen werden in den in [
16] vorgestellten Systemen zeitliche Fristen analog der Hilfsfrist verwendet, während EVRALOG-BW eine kontinuierliche Betrachtungsweise einnimmt. Eine Gemeinsamkeit liegt in der Berücksichtigung des Bestehens von Lebensgefahr für die Kategorisierung.
In Abb.
2 ist zu erkennen, dass Abweichungen zwischen den Schätzungen bestehen. Eine mögliche Ursache liegt in der Bandbreite der Notfallbilder. Eine Unterteilung der 143 Diagnosen des MIND4.0-Datensatzes in sechs Kategorien, teilweise unter Berücksichtigung von Vitalparametern, führt unweigerlich zu Varianz innerhalb der Kategorien. Die Einschätzungen können auch bei denselben Notfallbildern aufgrund der fehlenden wissenschaftlichen Datenbasis zum Zusammenhang zwischen Zeit und Outcome divergieren. Trotzdem unterscheiden sich die Verläufe der gemittelten Nutzenfunktionen deutlich (s. Abb.
3). Sie sind zudem konsistent mit den abgestuften Dringlichkeiten, die sich aus den Kategoriedefinitionen ergeben. Dies lässt auf ein gemeinsames Verständnis der Kategorien zwischen den Experten schließen. Die Unterschiede der Einschätzungen verdeutlichen den Bedarf für eine datenseitige Erfassung des Outcomes, um die Verläufe der Nutzenfunktionen evidenzbasiert validieren zu können.
Das Mapping der Einsatzstichwörter sowie der Diagnosen ist ein Indiz dafür, dass die Kategorien ausreichend genau zwischen Patienten unterscheiden können und gleichzeitig das volle Spektrum an Notfallbildern abdecken. Der Anteil an Einsätzen außerhalb der Kategorien 1 und 2 deutet darauf hin, dass alternative Dispositionsstrategien zur Nächstes-Fahrzeug-Strategie für Einsätze ohne vitale Bedrohung einen Effekt und damit Potenzial für eine patientengerechtere Versorgung aufweisen können. Die unterschiedliche Verteilung der Einsatzvolumina der Kategorisierung nach Einsatzstichwörtern und Diagnosen (s. Abb.
4) lässt eine detaillierte Analyse der Abweichungen und ihrer möglichen Ursachen sinnvoll erscheinen. Im Hinblick auf Abweichungen zur Nächstes-Fahrzeug-Strategie wird eine Balance zwischen Über- und Unterkategorisierung gefunden werden müssen. Für die Untersuchung der Effekte von Über- und Unterkategorisierung bieten sich simulative Untersuchungen an. Weiterhin ist zu untersuchen, ob für die Dispositionsentscheidung eine Differenzierung aller Kategorien notwendig ist oder ob sie für diese Entscheidung zusammengefasst werden können.
Die Betrachtung der Prähospitalzeit bei den Kategorien 2 und 4 verstärkt den Blick auf logistische Fragestellungen mit einer direkten Auswirkung auf die Prähospitalzeit. Dazu zählen beispielsweise die Einbeziehung der Luftrettung, die Standorte von Notaufnahmen oder spezieller Einrichtungen wie Stroke Units. Auch die Auswirkungen struktureller Veränderungen der Krankenhauslandschaft oder der Verfügbarkeit von Notaufnahmen auf die Versorgungsqualität können dadurch sichtbarer gemacht werden.
Limitationen
Die größte Limitation der Ergebnisse liegt in der fehlenden Evidenz für den Verlauf der Nutzenfunktionen. Die Modellierung der Nutzenfunktionen ist methodisch auch datenbasiert möglich. Die dazu benötigten Daten liegen aktuell nicht vor. Durch die Schätzung der Funktionen durch Experten entsteht eine Unsicherheit über die Aussagekraft der exakten Werte der Nutzenfunktionen. Aus Sicht der Projektteilnehmer erlauben die Nutzenfunktionen aber dennoch eine Bewertung von Einsatzzeiten, die näher am tatsächlichen Verlauf der Patientenzustände liegt, als es bei einer Hilfsfristbetrachtung der Fall ist.
Eine weitere Unsicherheit besteht dahingehend, dass die tatsächlichen Kategorien der Patienten derzeit retrospektiv nur auf Basis von Notarztdiagnosen festgestellt werden können. Eine größere Sicherheit kann durch die Rückkopplung von Daten aus den Notaufnahmen an den Rettungsdienst erreicht werden.
Ausblick
In der nächsten Phase von EVRALOG-BW werden aufbauend auf den entwickelten Kategorien und Nutzenfunktionen die logistischen Fragestellungen Rettungsmitteldisposition und Standortplanung von Rettungswachen betrachtet. Dazu wird zunächst erforscht, ob neue Planungsstrategien entwickelt werden können. Zur Analyse und Validierung der Strategien kommt anschließend ein Simulationsmodell zum Einsatz, das in Verbindung mit den Einsatzdaten der SQR-BW am Health Care Lab des Karlsruher Instituts für Technologie entwickelt wird [
21].
Simulative Untersuchungen können zudem genutzt werden, um den Mehrwert zusätzlicher Daten für die untersuchten Strategien einzuschätzen. So können beispielsweise die Auswirkungen unterschiedlicher Genauigkeitsgrade der Kategorisierung während des Notrufgesprächs auf den Patientennutzen untersucht werden. Solche Erkenntnisse können als Anstoß für weitere Forschungsvorhaben logistischer sowie medizinischer Natur dienen.