Hintergrund
Polypharmazie, die Einnahme vieler Medikamente, ist ein Phänomen, das besonders bei älteren Bewohner*innen der stationären Langzeitpflege verbreitet ist. Dieses Phänomen ist nicht einheitlich definiert, überwiegend ist aber die Einnahme von 5 oder mehr verschiedenen Medikamenten am Tag gemeint [
18]. Polypharmazie geht dabei oft mit erheblichen negativen Folgeerscheinungen einher und stellt die medizinische Versorgung vor große Herausforderungen.
In einer Population von 918 psychisch erkrankter Pflegeheimbewohner*innen werden z. B. im Schnitt 7,1 (SD ± 3,2) verschiedene Medikamente täglich eingenommen [
21], in einer weiteren Untersuchung von 495 Bewohner*innen sind es gar 10,8 (SD ± 4,7) Medikamente [
7]. Die vermehrte Medikamenteneinnahme im Alter ist häufig auf eine zunehmende Multimorbidität zurückzuführen, was nicht nur auf Bewohner*innen der Langzeitpflege zutrifft. So werden 77,5 % der Personen in der Altersgruppe 80+ als multimorbid eingestuft [
19]. Tatsächlich sind Personen mit einer Multimorbidität auch häufiger von fehlerhaften Verschreibungen und den Folgen einer Polypharmazie betroffen [
12].
Eine Polypharmazie und die Verschreibung bestimmter Medikamentengruppen wie u. a. zentralnervös dämpfende Arzneimittel werden mit Stürzen [
1,
15] und einer größeren Gefahr von Medikamenteninteraktionen in Verbindung gebracht [
14]. Polypharmazie ist außerdem mit arzneimittelbedingten Hospitalisierungen assoziiert, wobei hier u. a. Antikoagulanzien, β‑Blocker und ACE-Hemmer auffällig gehäuft zu finden sind [
20,
26]. Im Zusammenhang mit u. a. Antidepressiva, Glukokortikoiden und Antiepileptika wird von ungewollter Gewichtszunahme berichtet, während Wirkstoffe wie z. B. Zonisamid und Topiramat mit einer Gewichtsabnahme assoziiert sind [
17]. Auch die Einnahme von im Alter potenziell ungeeigneten Medikamenten („potentially inappropriate medication“, PIM) geht mit einem erhöhten Sturzrisiko [
2], häufigeren Auftreten von Frailty [
9] und erhöhtem Risiko für schwerwiegenden Medikamenteninteraktionen einher [
21].
Herausforderungen im Setting stationäre Langzeitpflege
Die eingangs dargestellten Studien zeigen eine grundlegend komplexe Verordnungssituation, mit häufiger (ausgeprägter) Polypharmazie, bei gleichzeitiger Multimorbidität und ausgeprägter Pflegebedürftigkeit bei den Bewohner*innen. Dies führt an sich schon, wie dargelegt, zu erhöhten Risiken. Die Besonderheiten des Settings stationäre Langzeitpflege tragen dann aber zusätzlich zu Schwierigkeiten beim Medikamentenmanagement bei. So ist für die ärztliche Versorgung der Bewohner*innen eine Vielzahl an Hausärzt*innen zuständig, die wiederum in unterschiedlichem Maße Hausbesuche durchführen. Dies erhöht die Anzahl an Schnittstellen und damit auch die Komplexität der Kommunikation zwischen den Beteiligten [
10]. Die Apotheken wiederum sind häufig lediglich Lieferanten der Medikamente und in den Prozess der Medikamentenversorgung nicht weiter eingebunden [
6]. Pflegende sind an der Initiierung zur Medikamentenverordnung oftmals beteiligt, stellen teilweise die Medikamente, verabreichen diese und sollen Therapieerfolg wie auch unerwünschte Wirkungen (UAW) beobachten. Allerdings werden die Pflegenden über Indikationen, erhoffte Therapiewirkungen und mögliche UAW nicht ausreichend informiert, was eine gezielte Krankenbeobachtung erheblich erschwert [
8]. Es zeigen sich im Gesamten massive strukturelle Defizite bei der Kommunikation und Kooperation zwischen den am Medikationsprozess Berufsgruppen, auch an den Schnittstellen stationär-ambulant [
6], wodurch es häufiger zu arzneimittelbedingten Problemen kommt [
11]. Auch das pharmakologische Fachwissen wird als verbesserungswürdig eingeschätzt [
8].
Fragestellung und Methodik
Die Frage ist daher, welche Konzepte und Interventionen zur Verbesserung der Situation der Betroffenen beitragen könnten, und welche Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung zu erwarten sind. Hierfür wurde eine Literaturrecherche, die sich auf Interventionsstudien in stationären Pflegeeinrichtungen konzentrierte, (Hinweis: kein systematisches Review), durchgeführt. Gesucht wurde in den Datenbanken PubMed und CINAHL. Als Suchbegriffe dienten „polypharmacy“ in Kombination mit „nursing home“, „long term care“ und „residential care“ (Zusatzmaterial online). In die Auswertung einbezogen wurden dann lediglich Interventionsstudien in Pflegeeinrichtungen in Deutschland (ab 2003), da es hier spezifische Bedingungen gibt (wie gesetzliche Grundlagen von SGB V und XI, Qualifikationsmix in der pflegerischen Versorgung etc.), die eine Übertragung von Erkenntnissen aus anderen Ländern erschweren.
Ausgehend von den detektierten Projekten wurde nach zugehöriger grauer Literatur gesucht (Google Scholar, Google), um Schwierigkeiten bei der Umsetzung und mögliche Stolpersteine identifizieren zu können, die ggf. in der Primärliteratur nicht ausreichend beschrieben wurden. Auch wenn etwa keine veröffentlichten Ergebnisse von publizierten Studienskizzen gefunden werden konnten, wurde unter Zuhilfenahme des Projekttitels eine Google-Suche durchgeführt, um beispielsweise Projektberichte zu identifizieren.
Ergebnisse
In der stationären Langzeitpflege in Deutschland konnten nur 6 Studien, die konkrete Ergebnisse lieferten, gefunden werden. Die Auswahlkriterien der Recherche und detaillierte Ergebnisse können im Zusatzmaterial online eingesehen werden.
Im interdisziplinär aufgebauten Projekt
Arzneimitteltherapie in Alten- und Pflegeheimen von [
23] wurde auf Basis einer ersten prospektiven Querschnitterhebung (11 Einrichtungen, 778 Bewohner*innen) eine Intervention entwickelt, die auf ihre Umsetzbarkeit geprüft werden sollte. Die Intervention basierte auf strukturierten Fortbildungsangeboten für die zuständigen Allgemeinmediziner*innen, Schulungen des Pflegepersonals zur Sensibilisierung und frühzeitigem Erkennen von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) sowie arzneimittelbedingten Problemen (AbP) und Schulungen zur Erkennung von AbP und den damit zusammenhängenden Interventionsmöglichkeiten für die heimversorgenden Apotheker*innen. Jede Einrichtung sollte zudem ein AMTS-Team (AMTS: Arzneimitteltherapiesicherheit) mit einer Pflegekraft und einer/m Apotheker*in bilden, die mithilfe von Fallbeispielen geschult wurden. Auch Hilfsmittel für die tägliche Umsetzung, wie die AMTS-Karte für einen schnellen inhaltlichen Überblick, wurden erstellt [
23]. Die entwickelten Interventionen wurde dann in 4 Einrichtungen mit 42 Proband*innen getestet und als „machbar“ eingeschätzt. Es gab jedoch Schwierigkeiten bei der Einbindung der Hausärzte*innen.
Aufbauend auf diesen Erfahrungen wurde die Intervention optimiert und die Studie
Arzneimitteltherapiesicherheit bei Patienten in Einrichtungen der Langzeitpflege (AMTS-AMPEL) durchgeführt. Primäres Outcome-Kriterium war die Reduktion von UAW. Anhand eines Vorher-nachher-Designs konnte ein signifikanter Rückgang vermeidbarer UAW nach 6 und 12 Monaten Intervention aufgezeigt werden. Gleichzeitig stieg aber die Häufigkeit von nichtvermeidbaren UAW etwas an. Die Intervention konnte nicht immer vollständig umgesetzt werden. Obwohl das Programm von den Mitarbeitenden der teilnehmenden Einrichtungen als insgesamt positive Erfahrung gewertet wurde, fehlte nach Projektende oft die Bereitschaft, mit den bereitgestellten Materialien und Verfahren nach Projektabschluss weiterzuarbeiten [
24].
Die Cluster-randomisierte HIOPP-3-iTBX-Studie baut wiederum auf den beiden zuvor genannten Projekten auf. Die getestete Intervention fußt auf 4 Elementen: Medikationsreviews durch spezifisch geschulte Apotheker*innen, Fortbildungen für Pflegekräfte und Hausärzt*innen, eine Toolbox zur AMTS (Entlass- sowie Visitentool, AMTS-Karte etc.) und Change-Management-Seminare für Pflegende, Ärzt*innen und Apotheker*innen. Untersucht wurde der primäre Endpunkt Verordnung von PIM und/oder mindestens 2 Neuroleptika. Als sekundäre Endpunkte wurden Sturzinzidenz, Hospitalisierungen, Lebensqualität und Gesundheitskosten evaluiert. Es zeigten sich bei Primär- und Sekundärendpunkten keine signifikanten Effekte in der Interventionsgruppe [
13].
Die Forschungsgruppe um Wolf-Ostermann hat im Projekt
MADRIC ein IT-gestütztes Monitoring-System zur Vermeidung von UAW entwickelt und getestet. Die Einrichtungen des Berliners Projekts wurden rekrutiert, da sie speziell angestellte Ärzte*innen haben, die die Bewohner*innen betreuen. Eine Einrichtung diente als Interventions-, eine als Kontrolleinrichtung. Zielvariablen waren die gesundheitsbezogene Lebensqualität (Instrument Short Form 36), der Pflegebedarf (Resident Assessment Instrument 2.0, RAI), Funktionsfähigkeit (Aktivitäten des täglichen Lebens, ADL), kognitive Fähigkeiten (entnommen aus dem RAI) und Sturzrisiko (Stratify Score). Nebenparameter umfassten die Komorbidität (Elixhauser Comorbidity Index), die Ernährungssituation (Nutritional Risk Screening) und aus dem RAI abgeleitete Faktoren, wie Dekubitus, Schmerzen, Depression, Anhedonie und Aggressivität. In die Evaluation gingen 48 Bewohner*innen der Interventions- und 72 der Kontrolleinrichtung ein. Die vom digitalen System den Ärzt*innen angezeigten Meldungen zu möglichen Problemen wurden allerdings in 95,6 % der Fälle abgelehnt; eine Anpassung der Therapie wurde aus verschiedenen Gründen nicht vorgenommen, selbst wenn es sich lediglich um Vorschläge zur Dosisanpassungen handelte. Bei der Erhebung der Outcome-Parameter zeigten sich keine signifikanten Unterschiede [
25].
In der Interventionsstudie
InTherAKT sollte die interprofessionelle Zusammenarbeit verbessert werden, um so eine angemessene Medikation und ein verbessertes gesundheitsbezogenes Outcome bei den Bewohner*innen zu erreichen. Hierfür wurden umfangreiche Bildungsmaßnahmen für die beteiligten Berufsgruppen und interprofessionelle Medikation-Reviews in einer stationären Einrichtung etabliert. Im Ergebnis führte die Intervention zu einer besseren Medikamentenversorgung, weniger schwerwiegenden Arzneimittelinteraktionen und seltener auftretendem agitiertem Verhalten bei den Bewohner*innen. Es wurden keine Effekte auf die Entwicklung der Kognition, eines Delirs, der Mobilität und die Gesamtzahl der verordneten Medikamente beobachtet [
16].
Das Projekt
Optimierte Arzneimittelversorgung für pflegebedürftige geriatrische Patienten (OAV) [
5] zielte mit einer neuen Form der Kooperation zwischen Pflegekräften, Ärzte*innen und Apotheker*innen sowie eines klinisch geprüften EDV-gestützten Risikomanagements darauf ab, die Versorgung von ambulanten oder stationären Pflegebedürftigen oder Patienten*innen, zu verbessern. Teile der betrieblichen und Hochschulausbildung in der praktischen Geriatrie wurden von den 3 Berufsgruppen gemeinsam absolviert. Das Studiendesign wird als eine multizentrische, nichtrandomisierte, 2‑armige Kohortenstudie beschrieben. Teilnehmen konnten Personen, die bei den Krankenkassen AOK Nordost, IKK Brandenburg und Berlin bzw. VIACTIV versichert waren. Die Auswahl der Interventionsgruppe erfolgte prospektiv, die der Kontrollgruppe retrospektiv. Insgesamt konnten 1325 Personen (110 ambulant, 1215 stationär versorgt) in die Interventionsgruppe eingeschlossen werden. Primärer Endpunkt der Evaluation waren UAW, sekundäre Endpunkte Krankenhausweinweisungen, Anzahl verordneter PIM und das Vorliegen einer Polypharmazie. Die Inzidenz von UAW sank signifikant um 27,5 %, die Krankenhauseinweisungen um 17,5 %, während sich das Ausmaß der Polypharmazie und die Anzahl verordneter PIM nur bei den Pflegeheimbewohner*innen signifikant reduzieren ließ [
5].
Stolpersteine und Lösungsansätze
Die Studien- und Evidenzlage ist als heterogen zu bezeichnen. Auf der einen Seite kann die HIOPP-3-iTBX-Studie mit einem Cluster-randomisierten Design als die wissenschaftlich hochwertigste Arbeit betrachtet werden, die zudem auf den Erfahrungen aus 2 Vorgängerprojekten und daraus erarbeiteten komplexen Interventionspaketen basiert. Gleichzeitig zeigen sich gerade hier keine signifikanten Verbesserungen. Die Autor*innen der Studie weisen zudem auf konkrete Probleme hin. So wurden etwa nur selten Empfehlungen der Apotheker*innen in den Reviews durch die Hausärzt*innen übernommen. Von 939 Medikationen mit Optimierungsbedarf kam es nur bei 153 zu einer Veränderung der Medikation. Dies hat laut den Autor*innen verschiedene Gründe, die auch auf eine komplexe Gemengelage aus Multimorbidität und Erwartungen vonseiten der Bewohner*innen, Angehörigen und Pflegenden zurückzuführen sind. Gleichzeitig wird auf die Wichtigkeit persönlicher Kontakte und Zusammenarbeit verwiesen, die nicht gegeben war [
13]. Auch die Ergebnisse der MADRIC-Studie deuten an, dass es für die behandelnden Ärzt*innen offenbar eine erhebliche Hürde darstellt, die verordnete Medikation zu ändern [
25]. Woran dies im Detail jeweils liegen könnte, wird in den Arbeiten als nicht endgültig beurteilbar beschrieben [
23]. Als mögliche Gründe könnten Zeitmangel speziell der Hausärzt*innen oder auch Unwillen, komplexe Medikationen zu ändern, v. a. wenn die Anordnungen durch Fachärzt*innen anderer Disziplinen stammen, infrage kommen. Schon in der Studie AMTS-AMPEL hatte sich aber gezeigt, dass die Treffen des AMTS-Teams relativ selten stattfanden und das Interesse an der Intervention bei Pflegenden und Apotheker*innen höher war als bei den beteiligten Ärzt*innen [
24]. Auch im Bericht zum OAV-Projekt wird von Schwierigkeiten bei der Kooperation zwischen den Pflegeeinrichtungen und Ärzt*innen berichtet, die auf die vorherrschenden Versorgungsstrukturen zurückgeführt werden, ohne diese aber konkreter zu benennen [
5]. In einer Gruppendiskussion mit den beteiligten Hausärzt*innen im Projekt AMTS-AMPEL wird aber konkret auf Probleme bei der Dokumentation in den Einrichtungen (Papier vs. digital, kein direkter Zugriff durch Ärzt*innen), Konflikte mit den Pflegenden bei unterschiedlichen Standpunkten, teilweise schwierige Zusammenarbeit mit den Apotheken sowie dem fehlenden Austausch mit Fachärzt*innen bei Medikationsänderungen verwiesen [
24].
Die Studie OAV zeigt (als Einzige) positive Ergebnisse. Hier zeigten sich in Bezug auf die Bewohner*innen stationärer Pflegeeinrichtungen signifikante Verbesserungen der Arzneimitteltherapie über alle Outcome-Parameter hinweg. Allerdings bestehen erhebliche methodische Einschränkungen durch die fehlende Randomisierung, was die Ergebnisse möglicherweise maßgeblich verzerrt haben könnte. Diejenigen, die sich für die Intervention gemeldet haben, sind ggf. schon zuvor für mögliche Probleme hinsichtlich der Medikation ihrer Angehörigen sensibilisiert gewesen. Dementsprechend würden Bedenken und Beschwerden möglicherweise auch eher und mit Nachdruck berichtet werden, was wiederum erst eine Reaktion auf ärztlicher Seite in Form einer Medikationsveränderung wahrscheinlich macht.
Interprofessionelle Kooperation
Interessant erscheint beim OAV-Programm, dass in diesem die interprofessionelle Verzahnung stark fokussiert wurde, sodass auch Teile der Ausbildung gemeinsam gestaltet wurden [
5]. Auch die InTherAKT-Studie fokussierte auf eine Verbesserung der Zusammenarbeit. Wenngleich diese Studie keine Kontrollgruppe beinhaltete, konnten dennoch Verbesserungen bei der individuellen Medikamentenversorgung für einen Teil der Kohorte festgestellt werden (bei hohem Score im Medication Appropriateness Index, MAI). Die Bedeutung einer gelingenden Zusammenarbeit wird in allen anderen Studiengruppen erkannt, verbunden mit erheblichen Anstrengungen diese beispielsweise in interprofessionellen Medikamenten-Reviews zusammenzuführen. Gleichzeitig wird aber genau diese Kooperation auch als größter Stolpersteine in den jeweiligen Diskussionen beschrieben. Woran das im Einzelnen liegt, ist schwer zu ermitteln. Zeit- und Personalmangel spielen sicherlich eine Rolle, wie auch die räumliche Trennung der einzelnen Akteur*innen. Ein regelmäßiges Forum zu etablieren, möglichst niederschwellig, etwa per Online-Meeting, könnte dazu beitragen, eine Optimierung zu ermöglichen. Ob eine ausreichende personelle Ausstattung der in den Studien beteiligten Einrichtungen gegeben war und ggf. deren Einfluss auf die Ergebnisse (
beachte: in Fall- und Kontrollgruppe), lässt sich allerdings nicht abschätzen.
Ein Aspekt, der möglicherweise bislang zu wenig beachtet wird, ist die Rolle der Pflegenden. Es wird notwendig sein, die pflegerische Kompetenz stärker einzubinden. Zum einen stammen notwendige Therapieinformationen in der stationären Langzeitpflege hauptsächlich von Pflegenden [
10]. Zum anderen verbessert eine Fachweiterbildung in Pain Nursing und Geriatrie nachweislich die positiven Effekte auf die Therapiesteuerung [
22]. Dies bedeutet im Umkehrschluss, es werden fachlich gut (weiter)gebildete Pflegekräfte benötigt, weil nur dann eine Kommunikation auf Augenhöhe mit anderen Akteur*innen möglich ist, die Therapiebeobachtung gelingt und die entsprechenden Informationen so weitergegeben werden, dass auch ein Nutzen für die Betroffenen wahrscheinlich wird. Auch hier kann wieder auf das OAV-Programm, bei dem dieser (gemeinsame) Bildungsaspekt stark fokussiert wurde, verwiesen werden.
Software-Unterstützungssysteme
Ein noch immer relativ neues Thema stellen Software-Unterstützungssysteme dar, v. a. in Verknüpfung mit künstlicher Intelligenz. Gerade, was das frühzeitige Erkennen von potenziellen Problemen betrifft, bieten diese Instrumente ein enormes Potenzial. So wurde in der AMBER-Studie ein Algorithmus zur Erkennung wahrscheinlicher arzneimittelbedingter Probleme (AbP) für die stationäre Langzeitpflege entwickelt [
3]. In einem ersten Anwendungstest mit 73 Pflegeheimbewohner*innen konnten 459 potenzielle AbP identifiziert werden, im Schnitt 6,3/Bewohner*in [
4].
Solche Entwicklungen in die Praxis zu implementieren, generiert wiederum eigene Schwierigkeiten. Im Zusammenhang mit der MADRIC-Studie wird z. B. von Software- und Schnittstellenproblemen v. a. mit der Software des bestehenden Dokumentationssystems berichtet, insbesondere nach Software-Updates. Zudem werden zu viele Meldungen bemängelt, die auf das wesentliche beschränkt werden sollten [
25].
Aus den Berichten geht aber nicht eindeutig hervor, ob es sich bei den zahlreichen Systemalarmen tatsächlich um unwichtige Meldungen ohne klinische Bedeutung handelt. Möglicherweise ist dieser Hinweis ein Ausdruck der Überforderung, da Verordnungen mit oftmals 10 oder mehr Medikamenten eben mit vielen potenziellen AbP einhergehen und damit mit vielen Alarmen.
Ob solche Software-Lösungen tatsächlich etwas an der Verordnungspraxis ändern, ist unklar. Eine Ärztin in der oben genannten MADRIC-Studie beschreibt zwar, dass ihr Verschreibungsverhalten nun kritischer wäre, was sich aber nicht in den Daten niederschlägt. Plausibel erscheint es dennoch, dass solche technischen Unterstützungsangebote hilfreich sein können. Allerdings sind hierzu randomisierte kontrollierte Studien erforderlich. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass der Nutzen überschaubar bleibt, wenn sich die Kooperation der beteiligten Professionen nicht verbessert.
Fazit für die Praxis
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Es gibt bislang keine Interventionen oder Programme, die eine signifikante Wirksamkeit gezeigt hätten und damit als Goldstandard oder Best practice herangezogen werden könnten. Es mangelt v. a. an der umfassenden Umsetzung der gesichteten Konzepte, was eine endgültige Einschätzung erschwert.
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Neben ausreichenden Personalressourcen sind pharmakologische Weiterbildung und interprofessionelle Verzahnung vermutlich der Schlüssel für ein verbessertes Medikamentenmanagement.
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Die Pflege muss fachlich und organisational gestärkt werden, damit sie ihrer Schlüsselrolle im Medikationsprozess gerecht werden kann.
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Zukünftige Forschung sollte die Argumente und Barrieren für die ärztliche Umsetzung von Medikamentenempfehlungen stärker in den Blick nehmen.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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