Mangelnde Kenntnisse über die Zuständigkeiten der Notfallversorgung führen zu einem höheren Bedarf an Ressourcen in der Notfallrettung. Die vorliegende Studie untersucht, ob sich die Inanspruchnahme und das Verhalten in Notfällen nach soziodemografischen Faktoren unterscheiden lassen.
Methodik
Von Januar bis Juli 2021 wurde eine anonyme schriftliche Befragung von über 4000 Besuchern des Oldenburger Impfzentrums durchgeführt. Der Fragebogen umfasste allgemeine Fragen zur Inanspruchnahme der Notfallversorgung sowie Fragen zur Selbsteinschätzung des eigenen Verhaltens in Notfällen und die Frage nach der Rufnummer des ärztlichen Bereitschaftsdiensts. Alter, Geschlecht und höchster Schulabschluss wurden ebenfalls erfasst. Sonderimpftage für medizinisch-pflegerisches Personal ermöglichten eine gesonderte Betrachtung der Stichprobe.
Ergebnisse
Weibliche Befragte hatten häufiger Kontakt zum ärztlichen Bereitschaftsdienst (19,6 % bzw. 15,6 %), jüngere Befragte suchten häufiger die Notaufnahme aus Eigeninitiative auf (72,1 % bzw. 13,2 %). Bei Schlaganfallsymptomen würden sich 10 % der Befragten mit höherem Schulabschluss und 25 % der Befragten mit niedrigem Schulabschluss zuerst an den Hausarzt wenden. Die Rufnummer des ärztlichen Bereitschaftsdiensts konnten 54,7 % des medizinisch-pflegerischen Personals korrekt wiedergeben. Im Notfall konnten sich 76,4 % aller Befragten eine erste ärztliche Beratung per Telefon oder Video vorstellen.
Diskussion
Soziodemografische Faktoren wirken sich auf die Nutzung der Ressourcen der Notfallrettung aus. Aufklärungsaktionen, frühzeitige Wissensvermittlung, ein gemeinsames Notfallleitsystem sowie eine telemedizinische Beratung bei niedrigschwelligen Einsätzen könnten zu einer Entlastung des Gesundheitssystems beitragen.
Die Online-Version dieses Beitrags (https://doi.org/10.1007/s10049-022-01083-z) enthält die Zusammenfassung der Antworten des Fragebogens und eine tabellarische Zusammenfassung der faktorspezifischen Unterschiede.
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Die deutschsprachigen Fachgesellschaften für Notfallmedizin definieren alle Personen als medizinischen Notfall, „die körperliche oder psychische Veränderungen im Gesundheitszustand aufweisen, für welche der Patient selbst oder eine Drittperson unverzügliche medizinische und pflegerische Betreuung als notwendig erachtet“ [1]. Diese Definition kann zu unterschiedlichen Sichtweisen bei Betroffenen oder Angehörigen führen, sodass bei akuten, aber geringfügigen Gesundheitsproblemen die subjektive Patientensicht von der medizinischen Sichtweise abweicht. Ansätze zur Steuerung der Inanspruchnahme durch Patienten existieren mit der Notrufnummer 112 und der Rufnummer 116117 des ärztlichen Bereitschaftsdiensts (ÄBD), aber letztendlich können die Patienten eigenständig die aus ihrer Sicht angemessene Versorgungsebene wählen [2]. Neben langen Wartezeiten auf Arzttermine, mangelnder Erreichbarkeit des kassenärztlichen Bereitschaftsdiensts, der subjektiv gefühlten medizinischen Dringlichkeit sowie der im Notfall geltenden freien Arztwahl gem. § 76 SGB Abs. 1 führen auch mangelnde Kenntnisse über die Zuständigkeiten und Strukturen der Notfallversorgung dazu, dass bis zu 80 % der Notaufnahmepatienten die Krankenhäuser selbstständig aufsuchen – aus medizinischer Sicht besteht jedoch etwa bei der Hälfte der Patienten nur eine geringe Dringlichkeit [3‐7]. Dies trifft auch auf die Versorgung durch den Rettungsdienst zu: Ca. 10 % der Notfalleinsätze werden ohne Nutzung von Sonderrechten gefahren und die Anzahl ambulanter Behandlungen ohne Transport nimmt zu [8, 9]. Diese wachsende Inanspruchnahme scheint nicht unmittelbar mit einer Zunahme lebensbedrohlicher Erkrankungen zusammenzuhängen. Laut Wehler et al. fällt die Gesundheitskompetenz von Notfallpatienten mit nichtdringlichem Behandlungsbedarf schlechter aus als die der deutschen Gesamtpopulation [10]. Ferner zeigen Stichprobenbefragungen, dass die deutsche Bevölkerung über die Zuständigkeiten in der Notfallversorgung nicht ausreichend informiert ist [11, 12]. Mit dieser Studie soll daher näher betrachtet werden, ob sich die Inanspruchnahme der Notfallversorgung und das Verhalten in Notfällen nach soziodemografischen Faktoren unterscheiden lässt.
Methode
Datenerhebung
Im Zeitraum vom 24.01.2021 bis zum 17.07.2021 wurde eine schriftliche, anonyme Befragung von Personen durchgeführt, die das Impfzentrum der Stadt Oldenburg (ca. 170.000 Einwohner) aufsuchten. Bei der Dokumentenausgabe für Erstimpfungen wurde neben den Impfdokumenten ein zweiseitiger Fragebogen mit allgemeinen Fragen zur Inanspruchnahme der Notfallversorgung und zur Selbsteinschätzung des eigenen Verhaltens in Notfällen anhand von Fallbeispielen sowie soziodemografischen Fragen ausgeteilt. Die ausgefüllten Fragebögen wurden beim Verlassen des Impfzentrums in einen verschlossenen Sammelbehälter eingeworfen.
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Stichprobe
Die querschnittliche Befragung basiert auf einer Gelegenheitsstichprobe. Ausgeschlossen wurden Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten oder nach Einschätzung der Verwaltungskräfte nicht in der Lage waren, den Fragebogen selbstständig bzw. mithilfe Angehöriger vor Ort auszufüllen.
In den ersten Monaten der Befragung wurde gemäß Impfkampagne des Bundesministeriums für Gesundheit nach Priorisierungsgruppen geimpft [13]. Die Priorisierung ermöglichte es, auch hochaltrige Personen in die Befragung einzubeziehen. Ferner wurden sog. „Sonderimpfaktionen“ für priorisierte Berufsgruppen im medizinisch-pflegerischen Bereich (Rettungsdienst, ambulante Pflegedienste sowie Arzt- und Zahnarztpraxen) durchgeführt. Die Impfpriorisierung wurde am 7. Juni 2021 aufgehoben, sodass eine Terminvereinbarung ungeachtet des Alters, des Gesundheitszustands oder des Berufs möglich war.
Fragebogen und erfasste Variablen
Der Fragebogen wurde gemeinsam mit den an der Notfallversorgung beteiligten Akteuren (Rettungsleitstelle, Rettungsdienst, Notaufnahme) sowie Wissenschaftlern aus dem Bereich der Notfallversorgung entwickelt. Es wurden die Häufigkeit der Inanspruchnahme von Rettungsdienst, ÄBD und Notaufnahme in den Jahren 2018 bis 2020 erfragt sowie der subjektiv eingeschätzte Erhalt angemessener Hilfe (Zusatzmaterial online, siehe Box am Anfang des Artikels). Anhand von zwei Fallbeispielen (Schlaganfallsymptomatik mit Hemiparese sowie Erkältungssymptome am Wochenende) wurde ermittelt, an wen man sich wenden würde, wenn medizinische Hilfe benötigt wird. Mit weiteren Fragen wurde erfasst, wie viele Minuten für die Anfahrt einer Notfalleinrichtung in Kauf genommen werden, wenn die Hausarztpraxis geschlossen ist, ob man bereit wäre, im Notfall eine erste ärztliche Beratung per Telefon oder Video zu erhalten, und wie die Telefonnummer des ÄBD lautet (Freitextfeld). Als soziodemografische Faktoren wurden Alter, Geschlecht und höchster Schulabschluss erfasst. Mittels Prätests wurde der Fragebogen auf dessen Eignung hinsichtlich Verständlichkeit, Plausibilität und Umfang geprüft, leichte Anpassungen wurden im Layout vorgenommen.
Statistische Analyse
Die Daten wurden zunächst deskriptiv analysiert und nach Alter, Geschlecht, Bildung und Berufsgruppe (medizinisch-pflegerisches Personal vs. allgemeine Bevölkerung) ausgewertet. Zusammenhänge zwischen der Inanspruchnahme und sozidemografischen Faktoren wurden je nach Skalenniveau mittels Chi-Quadrat-Test oder binärer Korrelationen analysiert.
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Die offene Frage zur Nummer des ÄBD wurde kategorisiert in keine Angaben, falsche Angaben, richtige Angaben (=116117). Für die Häufigkeit der Inanspruchnahme der jeweiligen Institutionen wurden die Antwortvariablen 4‑ bis 5‑mal und 6‑mal und mehr zusammengefasst zu 4‑mal und mehr.
Die Fragebögen wurden mithilfe der Erfassungssoftware Teleform (Electric Paper Informationssysteme, Lüneburg, Deutschland) Version 16.5 eingelesen und als CSV-Datei gespeichert. Die Auswertung erfolgte mithilfe der Statistiksoftware IBM SPSS Statistics (Version 26.0, SPSS Inc., Chicago, IL, USA).
Ergebnisse
Stichprobenbeschreibung
Von 4856 ausgeteilten Fragebögen konnten 4073 vollständig ausgefüllte Fragebögen in die Auswertung einbezogen werden („response“ 83,9 %). Das Durchschnittsalter lag bei 47,2 Jahren und 62,3 % waren weiblich (Abb. 1). Von medizinisch-pflegerischem Personal wurden 38,4 % der Fragebögen ausgefüllt. Diese waren im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung etwas jünger (44,2 bzw. 49,1 Jahre) und zu einem höheren Anteil weiblich (76,1 % bzw. 53,7 %). Der Anteil des Schulabschlusses Abitur oder Fachhochschulreife ist in der allgemeinen Bevölkerung höher (42,8 % bzw. 59,2 %).
Abb. 1
Charakteristika der Gesamtstichprobe
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Ergebnisse der Gesamtstichprobe
Von allen Befragten hatten in den Jahren 2018 bis 2020 15,1 % Kontakt zum Rettungsdienst, 18,1 % Kontakt zum ÄBD und 27,5 % suchten die Notaufnahme auf (Tab. 1). Bei Schlaganfallsymptomen würden 63,8 % der Befragten die Notrufnummer 112 kontaktieren, bei Erkältungssymptomen am Samstagnachmittag würden sich 75,2 % an den ÄBD wenden. Wenn im Notfall medizinische Hilfe benötigt wird, können sich 76,4 % der Befragten vorstellen, eine erste ärztliche Beratung per Telefon oder Video zu erhalten. Die Telefonnummer des ÄBD konnten 35,4 % aller Befragten korrekt angeben.
Tab. 1
Inanspruchnahme und Selbsteinschätzung Notfallverhalten Gesamtstichprobe
Gesamt
n = 4073; 100 %
Kontakt mit Rettungsdienst
– Gar nicht
– 1 × und mehr
Wenn ja: erforderliche Hilfe erhalten?
– Ja
– Nein
n = 4045
84,9 %
15,1 %
n = 509
93,5 %
6,5 %
Kontakt mit dem ärztlichen Bereitschaftsdienst
– Gar nicht
– 1 × und mehr
Wenn ja: erforderliche Hilfe erhalten?
– Ja
– Nein
n = 4027
81,8 %
18,2 %
n = 586
87,9 %
12,1 %
Aufsuchen Notaufnahme
– Gar nicht
– 1 × und mehr
Wenn ja: erforderliche Hilfe erhalten?
– Ja
– Nein
n = 4037
72,5 %
27,5 %
n = 1026
92,0 %
8,0 %
Aufsuchen Notaufnahme Eigeninitiative/ÜW/EW?
– Eigeninitiative
– Anraten Bereitschaftsdienstpraxis
– Einweisung/Überweisung Haus‑/Facharzt
– Nach Kontakt zur 112
– Sonstiges
n = 1016
59,8 %
9,0 %
16,7 %
14,7 %
3,2 %
Medizinische Hilfe bei Schlaganfallsymptomen
– Hausarztpraxis
– Ärztlicher Bereitschaftsdienst
– Krankenhausnotaufnahme
– Notrufnummer 112
– Sonstiges
n = 4042
13,4 %
6,8 %
15,2 %
63,6 %
1,0 %
Medizinische Hilfe bei Erkältungssymptomen
– Ärztlicher Bereitschaftsdienst
– Krankenhausnotaufnahme
– Notrufnummer 112
– Sonstiges
n = 4004
75,1 %
9,9 %
5,3 %
9,6 %
Mögliche Anfahrt Notfalleinrichtung (Dauer)
– Bis 15 min
– Bis 30 min
– Bis 45 min
– 45 min und länger
n = 3993
32,0 %
53,4 %
7,2 %
7,5 %
Nutzung Telefon oder Video im Notfall
– Ja
– Nein
n = 3903
76,4 %
23,6 %
Nummer ärztlicher Bereitschaftsdienst
– Keine Angaben
– Nummer falsch angegeben
– Nummer richtig angegeben
n = 4073
45,9 %
19,0 %
35,1 %
EW Einweisung, ÜW Überweisung
Geschlechtsspezifische Unterschiede
Weibliche Befragte hatten in den Jahren 2018 bis 2020 häufiger Kontakt zum ÄBD (19,6 % bzw. 15,6 %, p = 0,014) und zur Notaufnahme (28,7 % bzw. 25,6 %, p = 0,026; Zusatzmaterial online, siehe Box am Anfang des Artikels). Bei Schlaganfallsymptomen würden sich 62,5 % der weiblichen Befragten und 64,6 % der männlichen Befragten an die Notrufnummer 112 wenden (p = 0,004). Medizinische Hilfe bei Erkältungssymptomen würden 18,5 % der männlichen und 13,2 % der weiblichen Befragten in der Krankenhausnotaufnahme oder bei der Notrufnummer 112 suchen (p ≤ 0,001). Die Nummer des ÄBD gaben weibliche Befragte häufiger richtig an (39,8 % bzw. 28,0 %, p ≤ 0,001).
Altersabhängige Unterschiede
Ein deutlicher Unterschied nach Alter zeigt sich bei der Kontaktaufnahme zum ÄBD und zur Notaufnahme (p ≤ 0,001; Zusatzmaterial online, siehe Box am Anfang des Artikels). Je jünger die Befragten waren, umso häufiger nahmen sie ÄBD und Notaufnahme in Anspruch (Abb. 2). Eine Ausnahme bildete die Altersgruppe 80 Jahre und älter; hier zeigte sich ein Anstieg der Kontaktaufnahme aller drei Institutionen der Notfallversorgung. Ältere Befragte im Alter von 70 bis 79 Jahren suchten seltener die Notaufnahme aus Eigeninitiative auf als Befragte jünger als 30 Jahre (13,2 % bzw. 72,1 %, p ≤ 0,001) und erhielten häufiger zuvor eine Über- oder Einweisung des Haus- oder Facharztes (26,4 % bzw. 13,4 %). Bei Schlaganfallsymptomen würden jüngere Befragte eher die Notrufnummer 112 wählen, während mit zunehmendem Alter eher die Hausarztpraxis oder der ÄBD kontaktiert werden würde (p ≤ 0,001). Je jünger die Befragten waren, umso höher war die Bereitschaft, eine längere Anfahrtszeit für das Aufsuchen einer Notfalleinrichtung in Kauf zu nehmen (p ≤ 0,001). Dies trifft auch für die Nutzung von Telefon oder Video im Notfall zu (p ≤ 0,001).
Abb. 2
Inanspruchnahme der Notfallversorgung nach Bildung
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Bildungsabhängige Unterschiede
Befragte mit höherem Schulabschluss nahmen den Rettungsdienst seltener in Anspruch (87,0 % bzw. 79,3 %, p ≤ 0,001; Zusatzmaterial online, siehe Box am Anfang des Artikels). Gleichzeitig suchten sie deutlich häufiger aus Eigeninitiative die Notaufnahme auf als Befragte mit niedrigem Schulabschluss (65,4 % bzw. 40,6 %, p ≤ 0,001; Abb. 3). Während sich rund 10 % der Befragten mit höherem Schulabschluss bei Schlaganfallsymptomen zuerst an den Hausarzt wenden würden, trifft dies bei 25 % der Befragten mit niedrigem Schulabschluss zu (p ≤ 0,001; Abb. 4). An die Notrufnummer 112 würden sich bei Erkältungssymptomen am Wochenende Befragte mit höherem Schulabschluss seltener wenden (4,3 % bzw. 12,4 %, p ≤ 0,001). Eine Anfahrtsdauer von 45 min und länger zum Aufsuchen einer Notfalleinrichtung nahmen Befragte mit höherem Schulabschluss eher in Kauf (8,6 % bzw. 4,1 %, p ≤ 0,001). Ferner zeigt sich deutlich, dass sich Befragte mit höherem Schulabschluss im Notfall deutlich häufiger vorstellen können, eine erste ärztliche Beratung per Telefon oder Video zu erhalten (82,9 % bzw. 59,2 %, p ≤ 0,001).
Abb. 3
Zusammenhang von Bildung und Gründen für das Aufsuchen der Notaufnahme
Abb. 4
Zusammenhang von Bildung und Verhalten bei Schlaganfallsymptomen
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Medizinisch-pflegerisches Personal vs. allgemeine Bevölkerung
Medizinisch-pflegerisches Personal hatte in den Jahren 2018 bis 2020 aufgrund eines Notfalls signifikant weniger häufig Kontakt mit dem Rettungsdienst als die allgemeine Bevölkerung (13,4 % bzw. 16,2 %, p ≤ 0,001; Zusatzmaterial online, siehe Box am Anfang des Artikels). Dies trifft auch auf den Kontakt mit dem ÄBD (16,8 % bzw. 19,0 %, p ≤ 0,001) zu. Bei Schlaganfallsymptomen würde medizinisch-pflegerisches Personal häufiger die Notrufnummer 112 wählen (70,2 % bzw. 59,5 %, p ≤ 0,001). Bei Erkältungssymptomen am Samstagnachmittag würde sich medizinisch-pflegerisches Personal häufiger an den ÄBD (79,1 % bzw. 72,7 %, p ≤ 0,001) wenden. Während über die Hälfte (54,7 %) des medizinisch-pflegerischen Personals die Nummer des ÄBD richtig wiedergeben konnte, traf dies nur auf 22,9 % der allgemeinen Bevölkerung zu (p ≤ 0,001).
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Diskussion
Im deutschen Gesundheitssystem sind gemäß § 76 SGB V auch alle an der Notfallversorgung beteiligten Einrichtungen jederzeit ohne vorherige Kontrollinstanz frei und kostenlos zugänglich. Um die „richtige“ Institution zu wählen, muss die Bevölkerung in der Lage sein, Symptome und Dringlichkeit angemessen einzuschätzen, und ausreichend über mögliche Ressourcen und deren Zuständigkeiten informiert sein. Die vorliegende Studie unterstreicht, dass Alter, Geschlecht und Bildung eine nicht zu unterschätzende Rolle dabei spielen [12].
Inanspruchnahme nach Alter und Geschlecht
Es zeigt sich, dass jüngere Befragte häufiger den ÄBD und die Notaufnahme aufsuchten. Laut einer Forsa-Studie aus dem Jahr 2018 suchten 44 % der 18- bis 39-Jährigen in den letzten drei Jahren Hilfe in einer Notaufnahme, in unserer Studie traf dies nur auf 30 % der gleichen Altersgruppe zu. Dies könnte im Zusammenhang mit dem hohen Anteil jüngerer Beschäftigter in den medizinisch-pflegerischen Berufen stehen. Ferner werden in der Literatur als Ursache für die zunehmende Inanspruchnahme der Notfallversorgung durch jüngere Patienten u. a. eine höhere Anspruchshaltung, eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung und die sinkende Bereitschaft, Wartezeiten in der Primärversorgung in Kauf zu nehmen, aufgeführt [15‐18]. Der ÄBD scheint zudem eher von weiblichen Patienten in Anspruch genommen zu werden. Aus anderen Erhebungen zur Inanspruchnahme des ÄBD ist bekannt, dass der Anteil weiblicher Patienten zwischen 57 und 61 % beträgt und ebenfalls höher ist [14, 15]. Laut Schaeffler et al. ist die Gesundheitskompetenz bei Männern etwas geringer als bei Frauen [16], was – neben dem hohen Anteil an Befragten aus Gesundheitsberufen – eine mögliche Ursache für die höhere Frequentierung sein könnte.
Selbsteinschätzung in Notfallsituationen
Bei der Selbsteinschätzung des eigenen Verhaltens zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Höhe des Schulabschlusses und der für die Notfallsituation angemessenen Versorgungseinheit auf. Während fast zwei Drittel der Befragten mit hohem Schulabschluss bei Schlaganfallsymptomen die Notrufnummer 112 wählen würden, trifft dies bei den Befragten mit niedrigem Schulabschluss nur auf 52 % zu. Dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, mit Notfällen umzugehen, und Bildung gibt, zeigen die Ergebnisse einer Befragung in Hamburg [17]. Laut einer Luxemburger Studie waren Personen mit niedriger Schulbildung weniger über Schlaganfallsymptome und die Notwendigkeit der sofortigen Alarmierung des Rettungsdiensts informiert als Personen mit höherer Schulbildung [14].
Statt den Rettungsdienst zu alarmieren, würde jeder Dritte mit niedrigem Schulabschluss bei Schlaganfallsymptomen zunächst die Hausarztpraxis bzw. den ÄBD aufsuchen. Der damit einhergehende Zeitverlust trägt aber signifikant zu einer Erhöhung des Mortalitätsrisikos bei. Um die bestehenden Wissensdefizite zukünftig auszugleichen, sollte das Verhalten im Notfall im Rahmen der allgemeinen schulischen Bildung vermittelt werden [18]. Regionale, öffentlichkeitswirksame Aktionen zum Thema Schlaganfallaufklärung sowie dazu veröffentlichte Fernsehspots und downloadbare Videoclips zählen ebenfalls zu effektiven Verfahren [19‐21].
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Bekanntheitsgrad der Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdiensts
Die Nummer des ÄBD wurde von 23 % der allgemeinen Bevölkerung korrekt wiedergegeben, folglich ist der Bekanntheitsgrad etwas höher als bei anderen Befragungen (17–19 %; [11, 22, 23]). Dies könnte im Zusammenhang mit dem Bildungsgrad unserer Stichprobe stehen, welcher im Vergleich zur deutschen Bevölkerung höher war. Laut Schaeffer et al. gehören Menschen mit niedrigem Bildungsniveau zu den Personengruppen mit einer durchschnittlich geringeren Gesundheitskompetenz, die u. a. auch eine häufigere Nutzung von Notfalldiensten zur Folge hat [24]. Das Gesundheitssystem mit seinen Organisationen sollte zukünftig nutzer- und navigationsfreundlicher gestaltet werden, um die sozialen Unterschiede im Bereich der Gesundheitskompetenz auszugleichen. Ein gemeinsames Notfallleitsystem, welches über die beiden Notrufnummern 112 und 116117 erreichbar ist und die Hilfesuchenden in die für sie geeignete Versorgungsform disponiert, könnte zielführend sein [25]. Eine Erweiterung des gemeinsamen Notfallleitsystems um eine ärztliche telemedizinische Erstberatung für niedrigschwellige Einsätze könnte zu einer weiteren Entlastung der Institutionen der Notfallversorgung führen.
Auffällig war der Anteil von nur rund 55 % der Befragten aus dem medizinisch-pflegerischen Tätigkeitsfeld, die die Nummer des ÄBD richtig angaben. Gesundheitsberufe spielen eine wichtige Rolle bei der Informationsvermittlung der Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung. Die Ausbildungs- und Prüfungsordnung in Pflegeberufen wurde in den letzten Jahren diesbezüglich erweitert [26]. Gleichzeitig wird aber aufgrund des Fachkräftemangels zunehmend unzureichend qualifiziertes Personal in der Pflege eingesetzt, so waren im Land Bremen im Jahr 2011 in der stationären Pflege 38,9 % der Pflegekräfte als meist angelernte Hilfskräfte tätig [27]. Es ist zu hinterfragen, ob Pflegekräfte, die selbst eine mangelnde Gesundheitskompetenz aufweisen, einen Beitrag zur Vermittlung von Gesundheitskompetenz in der Patientenversorgung leisten können.
Limitationen
Die Stichprobe weist im Hinblick auf Alter, Geschlecht und Bildung Abweichungen zur Gesamtbevölkerung in Deutschland auf. Im Vergleich zur deutschen Bevölkerung [28] umfasst unsere Befragung mehr weibliche Personen (62,3 % vs. 50,7 %), ein höheres Durchschnittsalter (47,2 Jahre vs. 44,5 Jahre) und einen höheren Anteil an Personen mit hohem Schulabschluss (52,8 % vs. 33,5 %). Dies könnte am Status als „Universitätsstadt“ und dem damit verbundenen höheren Bildungsstand der Einwohner liegen. Ferner ist mehr als ein Drittel der Befragten in medizinisch-pflegerischen Berufen tätig und verfügt vermutlich über eine höhere Gesundheitskompetenz. Daher ist eine Übertragbarkeit der Aussagen auf Gesamtdeutschland nur bedingt möglich. Die Stichprobe der allgemeinen Bevölkerung kann auch Befragte enthalten, die in medizinisch-pflegerischen Berufen tätig sind und nicht zuvor an Sonderimpfaktionen teilgenommen haben. Die in der Frage zur Selbsteinschätzung genannten Schlaganfallsymptome können auch auf andere Erkrankungen hinweisen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Befragten in einer tatsächlichen Notfallsituation anders entscheiden, als sie in der schriftlichen Befragung angegeben haben.
Fazit für die Praxis
Männliche Befragte suchten in den Jahren 2018 bis 2020 seltener als weibliche Befragte den ÄBD oder die Notaufnahme auf, dies traf auch auf ältere Befragte im Vergleich zu den jüngeren zu.
Befragte mit höherem Schulabschluss würden sich in medizinischen Akutsituationen eher an die jeweils geeignete Institution wenden als Befragte mit niedrigem Schulabschluss.
Knapp die Hälfte der Befragten mit medizinisch-pflegerischen Berufen und mehr als drei Viertel der allgemeinen Bevölkerung konnten die Nummer des ÄBD nicht korrekt nennen.
Um Wissensdefizite über das richtige Verhalten in Notfällen auszugleichen, sind weitere Aufklärungsaktionen und eine frühzeitige Wissensvermittlung im Rahmen der allgemeinen schulischen Bildung notwendig.
Die Einführung eines gemeinsamen Notfallleitsystems kann potenziell eine gezielte sektorenübergreifende Patientensteuerung in eine adäquate Versorgungseinheit ermöglichen.
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Danksagung
Die Autoren bedanken sich bei den Mitarbeitern des Impfzentrums der Stadt Oldenburg für die Unterstützung bei der Durchführung der Studie.
Förderung
Diese Studie wurde von Haushaltsmitteln der Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften der Universität Oldenburg finanziert.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
I. Seeger, S. Thate, L. Ansmann und J.S. Lubasch geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Laut § 15 der Berufsordnung der Ärztekammer Niedersachsen besteht keine gesetzliche oder berufsrechtliche Beratungspflicht durch eine Ethikkommission (Stellungnahme der Medizinischen Ethikkommission Universität Oldenburg Nr. 2021-016).
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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