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01.07.2024 | Hebammen | Interview | Online-Artikel

Interview

„Deutschland braucht mehr Frauenmilchbanken!“

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Interviewt wurde:
Dr. Corinna Gebauer Fachärztin für Neonatologie und Leiterin der Frauenmilchbank am Uniklinikum Leipzig


Muttermilch ist die beste Nahrung für Säuglinge. Besonders deutlich profitieren Frühgeborene und kranke Neugeborene von einer Ernährung mit Muttermilch. Doch nicht jede Mutter kann stillen – bzw. bildet genügend Milch. Dann kann Spenderinnenmilch aus einer Frauenmilchbank überlebenswichtig sein. Darüber sprachen wir mit Dr. Corinna Gebauer, Fachärztin für Neonatologie und Leiterin der Frauenmilchbank am Uniklinikum Leipzig.

© privatDr. Corinna Gebauer, Fachärztin für Neonatologie und Leiterin der Frauenmilchbank am Uniklinikum Leipzig, © privat

Frau Dr. Gebauer, über Frauenmilchbanken wird gespendete Muttermilch an Neugeborene, Säuglinge und vor allem Frühgeborene weitergegeben. Wann ist die Verabreichung von Frauenmilch sinnvoll?

Dr. Corinna Gebauer: Gespendete Frauenmilch steht meist nicht ausreichend zur Verfügung, deshalb gibt es in den allermeisten Kliniken und teilweise sogar in den Frauenmilchbank-Leitlinien einiger Länder eine Prioritätenliste. An erster Stelle stehen kleine Frühgeborene unter 1.500g Geburtsgewicht oder unter 32,0 Schwangerschaftswochen für den Nahrungsaufbau direkt nach Geburt. Für diese Kinder ist die Ernährung mit menschlicher Milch und der Verzicht auf Kuhmilcheiweiß überlebenswichtig. Danach kommen größere Frühgeborene und reife Neugeborene mit Fehlbildungen.

Wie viele Frauenmilchbanken gibt es in Deutschland – und wie sieht diese Zahl im Verhältnis zur Nachfrage aus?

Gebauer: Es gibt in Deutschland aktuell ca. 50 nicht-profitorientierte Frauenmilchbanken. Die Verteilung in Deutschland ist unterschiedlich. Nicht alle sogenannten Level-1-Kliniken haben eine Frauenmilchbank oder Zugang zu Frauenmilch. Sehr große Milchbanken geben Milch an andere Kliniken, die Bedarf haben ab. Allerdings ist aktuell auch hiermit in den meisten Teilen Deutschlands noch keine flächendeckende Versorgung zu erreichen. In Baden-Württemberg wurde von der Frauenmilchbank Freiburg aus ein Netzwerk implementiert, womit eine breite Versorgung mit Frauenmilch möglich wurde. Kliniken ohne Milchbank fungieren als Sammelstationen, um lokale Spenderinnen die Abgabe ohne große Transportwege zu ermöglichen. Dieses System hat sich auch in den USA schon länger als nützlich erwiesen. 
Es gibt einerseits die Nachfrage an Spendemilch in den neonatologischen Kliniken, anderseits auch die Nachfrage von potenziellen Spenderinnen auf Abgabe der Milch in einer möglich nah gelegenen Frauenmilchbank oder Sammelstelle. Für beide Seiten besteht noch Optimierungsbedarf.

Die meisten Frauen spenden ihre Milch erst, wenn sich bei ihnen Angebot und Nachfrage eingespielt haben – die Milch hat dann aber eine andere Zusammensetzung als zu Beginn der Stillzeit. Was bedeutet das für Neugeborene oder Frühchen?

Gebauer: Vor allem für sehr kleine Frühgeborene wäre es wichtig, dass die gespendete Milch eine sogenannte Frühgeborenenmilch ist. Das ist Milch von einer Mutter, die selbst ein Frühgeborenes hat und die Milch in den ersten vier Wochen nach der Geburt spendet. Diese Milch ist proteinreicher als Muttermilch, die später in der Laktation, also zum Beispiel nach drei bis vier Monaten gespendet wird. Auf alle Fälle sollte darauf geachtet werden, dass die Spenderin vor Beginn der Spende selbst einen Vorrat für das eigene Kind eingefroren hat.

Müssen Eltern der Gabe von Frauenmilch zustimmen?

Gebauer: Die Eltern werden vor der Frauenmilchgabe über die Vorteile und Risiken aufgeklärt und müssen danach der Gabe zustimmen.

Wenn eine Hebamme in der Betreuung feststellt, dass eine Mutter (kurzfristig) zu wenig Milch hat – hat die Familie dann die Möglichkeit an Frauenmilch zu kommen?

Gebauer: Es gibt leider zu wenig Frauenmilch um alle bedürftigen Frühgeborenen, die stationär in den Neonatologien behandelt werden, damit zu versorgen. Eine Abgabe an Neugeborene und Säuglinge zu Hause ist daher aktuell wahrscheinlich nicht möglich.

Wenn eine Mutter Milch spenden möchte, was ist dann zu beachten?

Gebauer: Wenn eine Mutter mehr Milch produziert als das eigene Kind trinkt, könnte sie den Überschuss spenden. Die Mutter sollte sicher in der Milchbildung sein, sich schon einen Vorrat angelegt haben und das eigene Kind sollte satt werden. Spenden kann jede gesunde Mutter. Medikamente (außer beispielsweise Schilddrüsenhormone oder Asthmasprays), Nikotin- und Alkoholkonsum oder Drogenkonsum sind nicht mit einer Frauenmilchspende vereinbar. Vor der Aufnahme als Spenderin findet in der Frauenmilchbank ein persönliches Gespräch zur Gesundheit, Lebensstil, bisherigen Erkrankungen und Handling mit der Muttermilch statt. Dies wird auf einem Fragebogen dokumentiert.

Und wie wird Frauenmilch richtig aufbewahrt?

Gebauer: Gespendete Frauenmilch kann im Kühlschrank bis zum Verzehr 72 Stunden aufbewahrt werden, tiefgefroren bei -20°C sogar bis zu sechs Monaten. 

Viele Menschen fühlen sich bei dem Gedanken, Milch fremder Frauen zu füttern, unwohl. Die Angst vor Infektionen ist groß. Wie entkräftigen Sie diese Sorgen?

Gebauer: Die Frauenmilchspenderinnen werden ähnlich wie vor einer Blutspende untersucht: Hepatitis B und C, HIV, Syphilis und Zytomegalievirus werden vor der Verwendung der Milch ausgeschlossen. Im Laufe der Spende werden diese Untersuchungen regelmäßig wiederholt. Weltweiter Standard ist die Verwendung von pasteurisierter Spendemilch, das bedeutet, die Milch wurde für 30 Minuten auf 62,5°C erhitzt, um Bakterien und Viren abzutöten. Manche Milchbanken füttern jedoch auch rohe Spendemilch. Die Milch wird vor der Verwendung bakteriologisch untersucht: Zur rohen Verwendung dürfen nur nicht krankmachende Hautbakterien in niedriger Keimzahl enthalten sein.

Was sollte sich in Bezug auf Frauenmilchbanken im deutschsprachigen Raum ändern?

Gebauer: Es sind gleich mehrere Dinge: Der Bedarf an Spendemilch ist in Deutschland noch nicht flächendeckend erfüllt. Es gibt immer noch Frühgeborene, deren Mütter keine oder nicht ausreichend Muttermilch haben, die mit industrieller Säuglingsnahrung ernährt werden müssen. 
Die Kosten zur Ernährung mit Frauenmilch werden in Deutschland nicht von den Krankenkassen vergütet. Die Ernährung mit Spendemilch ist um ein Vielfaches kostenintensiver als mit Formulanahrung. Schwere Komplikationen wie die nekrotisierende Enterokolitis treten aber unter der Ernährung mit menschlicher Milch (Muttermilch und Spendemilch) seltener auf. Bei der Ernährung mit Spendemilch handelt es sich um eine präventive Maßnahme, die in den Kosten nicht abgebildet wird. Nahezu alle Frauenmilchbanken werden deshalb von der jeweiligen Klinik finanziert. 
Stillberatung für alle Mütter, Unterstützung bei der Initiierung der Laktation und Aufrechterhalten der Laktation müssen gefördert werden. Besonders Mütter von sehr kleinen Frühgeborenen brauchen langfristige Unterstützung. Der lange stationäre Aufenthalt der Kinder nach der Geburt über viele Wochen, die emotionale Belastung für die Eltern und die wochenlange Abhängigkeit von einer Milchpumpe sind eine Herausforderung für die Mütter. Je besser diese Mütter Unterstützung bekommen, desto mehr eigene Muttermilch ist vorhanden und desto weniger wird Spendemilch benötigt.

Das Interview führte Josefine Baldauf

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