„Exsanguination“ nach multiplen Messerverletzungen im ländlichen Raum – Fallbericht einer erfolgreichen prähospitalen Transfusion durch den gezielten Einsatz von speziellen Rettungsmitteln
verfasst von:
Dr. med. Davut Deniz Uzun, Maik von der Forst, Christoph Simon, Jonas Fricke, Maximilian Dietrich, Erik Popp, Stephan Katzenschlager
Schwere Traumata stellen ein medizinisches und sozioökonomisches Problem mit hohen medizinischen und einsatztaktischen Ansprüchen dar. Es wird ein prähospitaler Fall mit multiplen penetrierenden Verletzungen präsentiert, bei dem die frühzeitige Hämotherapie am Unfallort zu einer Stabilisierung des klinischen Zustands führte, einen sicheren Transport ermöglichte und im Überleben ohne neurologisches Defizit resultierte.
Hinweise
Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Manuskript das generische Maskulinum verwendet. Die in dieser Arbeit verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.
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Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Abkürzungen
eFAST
„Extended focused assessment with sonography for trauma“
EK
Erythrozytenkonzentrat
MIC
„Medical intervention car“
NEF
Notarzteinsatzfahrzeug
RTH
Rettungstransporthubschrauber
RTW
Rettungstransportwagen
TIK
Traumainduzierte Koagulopathie
TTO
Team-Time-out
tPA
„Tissue plasminogen activator“
Einleitung
Schwere Traumata gehören nach wie vor zu den führenden Ursachen für eine hohe Mortalität und Morbidität in den Industrienationen. Global sind sie für rund 8 % aller jährlichen Todesfälle verantwortlich [1, 2]. Hierbei ist die traumabedingte Hämorrhagie in den ersten drei Stunden als führende Tordesursache zu nennen [3‐5].
Somit sind traumatische Blutungen mit unkontrolliertem hämorrhagischem Schock lebensbedrohliche Zustände, die es zu bewältigen gilt, um die Mortalität zu senken [6]. Der durch das primäre Trauma entstandene Gewebe‑/Endothelschaden sowie der Blutverlust sind Faktoren für die Entwicklung einer sogenannten „traumainduzierten Koagulopathie“ (TIK). Diese wird mittlerweile als eigenständiges Krankheitsbild verstanden [7]. Die TIK und die myokardiale Hypoxie sind die größten Prädiktoren für Multiorganversagen und Tod nach Trauma [8]. Die Integrität des Endothels scheint in diesem Zugang eine relevante Rolle zu spielen, beispielsweise ist durch Hypoxie und/oder Hypoperfusion bedingt eine erhöhte tPA-Freisetzung zu verzeichnen [9, 10].
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Durch die gestörte Mikrozirkulation entsteht konsekutiv eine zelluläre Hypoxie, welche eine sogenannte „shock-induced endotheliopathy“ (SHINE) entstehen lässt und zum Multiorganversagen mit Koagulopathie führen kann [9, 11]. Aufgrund der mit einer Transfusion von Blutprodukten potenziell einhergehenden akuten und chronischen Komplikationen ist eine adäquate Indikationsstellung und Patientenselektion unerlässlich [12]. Die Veröffentlichung von zwei großen randomisierten, kontrollierten Studien zur prähospitalen Verabreichung von Blutprodukten bei Traumapatienten im hämorrhagischen Schock hat zu zahlreichen Diskussionen geführt [13, 14]. Im Rahmen einer dieser Studien wurde der Nutzen der prähospitalen Gabe von Blutplasma bei Patienten mit hämorrhagischem Schock in den USA untersucht. Die Autoren der Studie ziehen aus ihren Untersuchungen den Schluss, dass der prähospitale Einsatz von Blutplasma im städtischen Einsatzgebiet mit relativ kurzen Transportzeiten keinen Vorteil mit sich bringt [14]. Wie in anderen Publikationen zu diesem Thema wurde insbesondere die Übertragbarkeit auf die europäischen Verhältnisse diskutiert. Ebenfalls konnte nicht gänzlich eruiert werden, ob nicht noch andere Faktoren das Behandlungsergebnis der Patienten in den Studien beeinflusst haben. In einer qualitativ hochwertigen Studie von Crombie et al., welche im Vereinigten Königreich durchgeführt wurde, konnte in keinem patientenrelevanten Outcomeparameter ein Unterschied zwischen der Gabe von Blutprodukten und NaCl 0,9 % detektiert werden [15]. Somit scheinen in der Zusammenschau die Identifikation derjenigen Patienten, die von einer Bluttransfusion profitieren, sowie die Applikation des adäquaten Blutprodukts von entscheidender Bedeutung zu sein. Entgegen der ambivalenten Studienlage können wir im Folgenden einen Fall präsentieren, welcher zu einer Stabilisierung des klinischen Zustands führte, einen sicheren Transport ermöglichte und im Überleben ohne neurologisches Defizit resultierte.
Fallbericht
Im Frühjahr 2024 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei Männern, welche in multiplen penetrierenden Verletzungen einer Person endete. Nach Eingang mehrerer Notrufe alarmierte die zuständige integrierte Leitstelle unter dem Alarmstichwort „Trauma mit Messerstichverletzungen“ um 06:45 Uhr einen nahegelegenen Rettungswagen (RTW) sowie um 06:52 Uhr das nächste, ca. 20 Fahrminuten entfernte Notarzteinsatzfahrzeug (NEF). Die Besatzung des RTW fand vor Ort eine unsichere und noch nicht freigegebene Polizeilage vor. Auf der Straße lag ein blutüberströmter ca. 50-jähriger Mann, der nur mit Unterwäsche bekleidet war. Die Außentemperatur betrug ca. 16 °C. Der Patient konnte von der RTW-Besatzung unter Polizeischutz in den RTW verbracht werden. Hier erfolgte die sofortige Basisversorgung und Sauerstoffgabe (15 l/min). Parallel wurde der Täter von der Polizei festgenommen, sodass die Einsatzstelle fortan sicher war. Drei Versuche einer peripheren Venenverweilkanüle (PVK) durch das RTW-Team scheiterten. Zur Bekämpfung der Hypothermie wurde der RTW maximal aufgeheizt und die Türen geschlossen gehalten.
Der „first look“ durch den um 07:10 Uhr eintreffenden Notarzt ergab das Bild eines lebensbedrohlich verletzten Patienten mit deutlich eingeschränkter Vigilanz und relevantem Blutverlust nach extern. Während der Erstversorgung ergaben sich nach Evaluation des Patienten folgende Punkte nach xABCDE-Schema (Tab. 1).
Tab. 1
Initialer Untersuchungs‑/Behandlungsgang des bodengebundenen Notarztes nach xABCDE-Schema [6]
xABCDE
Befund
Sofortmaßnahmen
Externe kritische Blutung
Aktive Blutung aus Gesichtsverletzung, multiple Schnitt- und Stichverletzungen an Hals, Thorax, Abdomen mit schwachen Blutungen
Manuelle Kompression an Kopf und Hals
„Airway“
Frei, jedoch bedroht durch deutlich eingeschränkte Vigilanz
Esmarch-Manöver
„Breathing“
Atemfrequenz 26/min, eingeschränkte Atemmechanik, SpO2 87 % unter 15 l/min O2 über Maske, rechts AG abgeschwächt, multiple thorakale Verletzungen
Glasgow Coma Scale 8, Pupillen ohne pathologischen Befund
BZ-Messung
„Exposure“
Multiple Einstiche:
Wärmeerhalt
„Cardiac box“
Dorsal Höhe THK 6
Epigastrisch
Fehlstellung Fuß rechts
Temperatur 35,8 °C
Basierend auf der langen Anfahrtszeit (ca. 20 min), welche vom nächstgelegenen Traumazentrum aus stattfand, wurde eine Load-and-go-Strategie nach dem ersten Untersuchungsgang im ersten Team-Time-out (TTO) erwogen. Aufgrund der bestehenden manifesten Hypoxämie, des persistierenden Schocks mit mikro- und makrozirkulatorischen Einschränkungen, der deutlich verminderten Vigilanz und letztendlich drohendem Kreislaufstillstand wurde die Entscheidung zur unmittelbaren Einleitung von Maßnahmen vor Ort getroffen. Parallel erfolgte das Management nach xABCDE. Die Vielzahl der Schnitte und Stiche (retrospektiv ca. 50) an Kopf, Hals, Thorax, Rücken und Extremitäten erschwerte die Einschätzung deutlich und ließ lediglich eine Versorgung von einzelnen Verletzungen zu. Die stärkste Blutung aus der Gesichtsverletzung wurde mit einem Druckverband behandelt, konnte aber nur durch eine zusätzliche manuelle Kompression kontrolliert werden. Infolge der hämodynamischen Kompromittierung wiesen die meisten Schnittwunden keine aktiven Blutungszeichen auf und wurden zunächst mit provisorischen Verbänden behandelt. Besorgniserregend waren mehrere Stichverletzungen in die „cardiac box“, am thorakoabdominellen Übergang ventral und eine Stichverletzung auf gleicher Höhe dorsal. Im Rahmen der fokussierten körperlichen Untersuchung konnten die weiteren potenziellen Blutungsorte klinisch nicht mit einer Ursache für den hypovolämischen Schock assoziiert werden. Aufgrund der deutlichen Vigilanzminderung bestand zu diesem Zeitpunkt ein zwar noch offener, jedoch stark bedrohter Atemweg. Es konnte eine asymmetrische Atemmechanik beobachtet werden, welche von einem auskultatorisch abgeschwächten Atemgeräusch auf der rechten Seite begleitet war. Der Patient imponierte gräulich-fahl, mit einer Rekapillarisierungszeit von > 5 s und einem schwachen, tachykarden Radialispuls.
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Bei deutlich eingeschränkten Venenverhältnissen konnte durch den Notarzt lediglich ein 18G-PVK am Unterarm und nach frustranem zweitem Punktionsversuch ein i. o.-Zugang an der proximalen Tibia etabliert werden. Diese wurden umgehend mit einer i.v.-Volumentherapie, Katecholamintherapie mit Noradrenalin (jeweils 20 µg-Boli), Analgesie (25 mg Esketamin), Applikation von 1 g Tranexamsäure sowie einer vollständigen körperlichen Untersuchung begleitet.
Parallel erfolgte die Alarmierung des etwa 20 km entfernten Rettungshubschraubers (RTH) und des „medical intervention car“ (MIC; [16]) des Universitätsklinikums Heidelberg. Das MIC hatte die gleiche Anfahrtsstrecke zurückzulegen wie der primäre Notarzt. Beide verfügen über die Möglichkeit der prähospitalen Transfusion von Blutprodukten sowie von erweiterten notfallmedizinischen Maßnahmen. Aufgrund der Notwendigkeit einer raschen Volumentherapie, welche in diesem Fall bei erschwerten Venenverhältnissen nicht durch großlumige PVK erreicht werden konnte, wurde die Anlage eines 13 F-Shaldon-Katheters vorbereitet. Dieser großlumige zentrale Venenkatheter wird in diesem Rettungsdienstbereich auf den NEF regelhaft mitgeführt. Zur Abarbeitung möglicher Schockursachen erfolgte parallel die strukturierte Notfallsonographie nach eFAST-Protokoll. Bei eingeschränkten Schallbedingungen konnten keine sonographischen Hinweise auf eine relevante Perikardtamponade nachgewiesen werden, jedoch war es unmöglich einen Perikarderguss sicher auszuschließen. Linksseitig bestand kein Hinweis auf einen Pneumothorax oder freie abdominelle Flüssigkeit. Rechtsseitig konnte der Auskultationsbefund bestätigt werden und es zeigte sich der Hinweis auf einen Pneumothorax/Spannungspneumothorax bei fehlendem Pleuragleiten und fehlendem Lungenpuls.
Trotz suffizienter Basistherapie verschlechterte sich die respiratorische und hämodynamische Situation. Zur Sicherung der Atemwege und Oxygenierung war die Indikation zur Notfallnarkose gegeben. Diese wurde mit Sufentanil, Midazolam und Rocuronium eingeleitet. Mittels primär videolaryngoskopischer Intubation bei „first pass success“ konnte ein suffizientes etCO2 gemessen werden. Zur Aufrechterhaltung eines adäquaten Perfusionsdrucks erfolgte weiterhin die zusätzlich Gabe von Noradrenalin in 20 µg-Boli. Trotz Rückzug des Tubus um 2 cm (auf 20 cm Zahnreihe) konnte weiterhin kein suffizientes AG rechts festgestellt werden. Als Konsequenz und aufgrund des positiven Auskultationsbefunds sowie eFAST-Befunds wurde eine rechtsseitige Minithorakotomie in Bülau-Position durchgeführt. Auch wenn die Entlastung der Pleura erfolgreich durchgeführt wurde, konnte unmittelbar nach der Entlastung keine manifeste Verbesserung der Hämodynamik beobachtet werden.
Obgleich eine Volumentherapie, Noradrenalinboli sowie eine suffiziente Entlastung des Spannungspneumothorax erfolgten, persistierte die hämodynamische Instabilität ohne messbaren Blutdruck, nun mit fehlendem Radialispuls und mit schwach tastbarem, tachykardem Karotispuls sowie einem aschfahlen Hautkolorit. In dieser Phase betrug das etCO2 17 mm Hg, passend zu einer Peri-Arrest-Kreislaufsituation. Nach dem Eintreffen des RTH wurde ein erneutes TTO durchgeführt und bei persistierender hämodynamischer Instabilität trotz der bereits durchgeführten Volumen- und Katecholamintherapie (Nonresponder) die Entscheidung zur prähospitalen Transfusion getroffen. Als weiterhin führendes Problem wurde die Unbeherrschbarkeit des hämorrhagischen Schocks trotz Therapie benannt. In diesem Rahmen wurde eine Transportzeit ins nächste geeignete Traumazentrum mit ca. 20 min veranschlagt. Aufgrund dieser Zeitspanne wurde die Wahrscheinlichkeit, dass es bei einem direkten Transport ohne Erreichen einer permissiven Hypotension zu einem Arrest kommen würde, klinisch als sehr hoch eingeschätzt.
Das primäre Rettungsteam widmete sich weiter der hämodynamischen Stabilisierung mit Katecholaminen und Volumen sowie den Vorbereitungen der invasiv arteriellen Blutdruckmessung. Der HEMS-TC bereitete Erythrozytenkonzentrate (EK) und Lyoplasmen vor und der Hubschraubernotarzt führte die Anlage des bereits vorbereiteten Shaldon-Katheter sowie einer arteriellen Blutdruckmessung sonographisch gesteuert in V. und A. femoralis links durch. Entsprechend der SOP zur prähospitalen Transfusion wurden ein Bedside Test (Blutgruppe AB) durchgeführt und zwei Kreuzproben vor Transfusionsbeginn abgenommen. Zusätzlich wurde eine Blutentnahme zur prähospitalen BGA durchgeführt. Aufgrund der Außentemperatur, welche unterhalb der Betriebstemperaturbereiche des BGA-Gerät lag, konnte keine Messung durchgeführt werden. Nach Blutentnahme wurde mit der Transfusion des 1. EK begonnen. Die drei Einheiten Lyoplasma wurden zu dem Zeitpunkt noch aufgelöst.
Bei Eintreffen des MIC wurde ein erneutes TTO mit kurzem Briefing bezüglich möglicher Vorgehensweisen (Notfallthorakotomie etc.) bei weiterer Verschlechterung durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt der prähospitalen Versorgung waren innerhalb von 30 min fünf erfahrene Notfallmediziner an der Versorgung des Patienten beteiligt. Die vorhandenen Ressourcen konnten effektiv genutzt werden, sodass eine Vielzahl an notwendigen Punkten (Transfusion, Materiallogistik, Sonographie) parallel adressiert wurden, im Sinne einer horizontalen Abarbeitung des Einsatzgeschehens. Trotz der laufenden Volumen- und Katecholamintherapie verschlechterte sich der Patientenzustand im Rahmen der Behandlung. Aus diesem Grund wurde bei einer unveränderten Peri-Arrest-Situation zur Behebung eines möglicherweise unentdeckten Pneumothorax auf der linken Seite eine Thorakostomie auf gleicher Höhe durchgeführt. Zusätzlich zum Basistemperaturmanagement erfolgte die Anwendung einer chemischen Wärmedecke (Ready-Heat II, TechTrade, USA), die auf dem RTH zur Verfügung stand.
Der parallele erneute Versuch zur BGA-Bestimmung durch ein weiteres BGA-Gerät (MIC) konnte aufgrund der Außentemperatur ebenfalls nicht durchgeführt werden. Der erste invasiv abgeleitete Blutdruck, der etwa zeitgleich mit Beginn der Transfusion registriert wurde, zeigte eine Peri-Arrest-Situation mit einem RR von 50/20 mm Hg, was den Erwartungen entsprach. Auf Basis der bis dato durchgeführten Maßnahmen und erhobenen Befunde wurde im TTO beschlossen, dass bei weiterhin führendem C‑Problem der Versuch einer Stabilisierung mittels Transfusion und Volumen unternommen werden sollte. Die 3 Einheiten Lyoplasma und die weiteren EK des RTH und MIC wurden durch einen mobilen Blutwärmer über den Schockkatheter zügig transfundiert.
Bei Verdacht auf eine traumainduziert eingeschränkte kardiale Funktion mit bestehender Bradykardie wurde die hämodynamische Therapie um die Gabe von Adrenalinboli ergänzt [17].
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Eine mögliche Notfallthorakotomie wurde zu diesem Zeitpunkt bei nicht sicher auszuschließendem V. a. Perikardtamponade sowie zur Durchführung einer manuellen Aortenkompression bei unkontrollierbarer Blutung diskutiert und die Rollenverteilung besprochen [18]. Des Weiteren wurden alle Beteiligten hinsichtlich möglicher Einwände befragt und die Option eröffnet, den RTW gegebenenfalls zu verlassen, falls diese durchgeführt werden müsste. Das Team wurde für den Fall eines eintretenden Kreislaufstillstands auf eine Notfallthorakotomie vorbereitet [18]. Unter laufender Transfusion und Adrenalinboli zeigte sich eine Blutdrucksteigerung und es konnte eine Kreislaufsituation mit permissiver Hypotonie bei weiterhin nicht vollständig kontrollierter Blutung erreicht werden und somit war eine Notfallthorakotomie vor Ort nicht indiziert. Auf die blinde Gabe von Fibrinogen wurde verzichtet [19]. Die zu diesem Zeitpunkt bereits fortgeschrittene prähospitale Versorgungszeit (ca. 50 min) wurde so kurz wie möglich gehalten, indem mit dem Erreichen einer Transportfähigkeit der bodengebundene Transport in den Schockraum des Universitätsklinikums begonnen wurde. Dieser ist für Patienten, die sich in einem Zustand schwerer Verletzungen oder Erkrankungen befinden, mit einer Code-Red-Alarmierungsstufe ausgestattet. Bei Code-Red-Anmeldung erfolgen u. a. eine Erweiterung von Personal und Material und die Bestückung eines Druckinfusionsgeräts mit zwei Erythrozytenkonzentraten 0 negativ im Schockraum (Tab. 2).
Tab. 2
Besonderheiten bei eingesetztem Equipment/Personal „außerhalb“ der Norm
„Standard Versorgung“
„Fallbericht“
Personal
RTW: NFS + RS
RTW: NFS + RS
NEF: NA + NFS
NEF: NA + NFS
RTH: NA + NFS
RTH: NA + NFS
MIC: 3 × NA
Alle 5 Notärzte absolvierten zuvor Trauma‑, Notfallsonographie- und INTECH-Kurse [20]
Alle Notärzte und fast das gesamte nichtärztliche Personal kannten sich sehr gut und haben zuvor mehrfach zusammen trainiert und/oder gearbeitet
Material
Entsprechend DIN 1789
Zusätzlich:
+ 3 × Sonographiegerät
+ 2 × Blutgasanalysegerät
+ 13 F-Katheter
+ Invasive arterielle Blutdruckmessung
+ 8 × Erythrozytenkonzentrate
+ 3 × lyophilisiertes Plasma
+ 2 × mobiler Blutwärmer
+ Wärmedecke „Ready Heat“
NFS Notfallsanitäter, RS Rettungssanitäter, NEF Notarzteinsatzfahrzeug, RTW Rettungstransportwagen, RTH Rettungstransporthubschrauber, MIC „medical intervention car“, NA Notarzt
Die weitere Stabilisierung mittels Fortführung der Hämotherapie sowie die kontinuierliche Reevaluation des Patientenzustands erfolgten während des Transports. Die Entscheidung zum bodengebundenen Transport fiel, trotz etwas längerer Transportzeit, zugunsten der Option, bei erneuter hämodynamischer Instabilität oder Arrest weitere invasive Maßnahmen ergreifen und die Therapie mit einem Team aus 4 Notärzten und einer Notfallsanitäterin fortführen zu können.
Die Übergabe des Patienten erfolgte an das Code-Red-Team im Schockraum. Der Patient wurde intubiert/beatmet, unter laufender Transfusion und Volumengabe und unterstützt mit i.v.-Adrenalinboli mit permissiv hypotoner Kreislaufsituation dem Schockraumteam übergeben. Insgesamt wurden prähospital 2000 ml kristalloide Flüssigkeit, 4 EK, 3 Lyoplasmen, 4 g Kalzium und 2 g Tranexamsäure appliziert. Der gesamte Verlauf der prähospitalen und frühen innerklinischen Versorgung ist in Abb. 1 zusammengefasst.
Abb. 1
Prähospitaler Zeitverlauf. Die Abstände zwischen den Zeitpunkten entsprechen nicht den tatsächlichen Zeitabständen. SR Schockraum, TTO Team-Time-out, Art arterieller Zugang, 13F 13F-Shaldon-Katheter
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Die im Schockraum durchgeführten BGA zeigten folgende Werte, welche sich unter Fortführung der Transfusion positiv entwickelten (Tab. 3).
Tab. 3
Verlauf der Blutgasanalysewerte
Wert
08:35
08:54
09:13 (venös)
09:41
pH
7,14
7,33
7,26
7,35
CO2 [mm Hg]
42
46
49
36
O2 [mm Hg]
579
469
61
372
BE [mmol/l]
−14
−2
−5
−3
Hb [g/dl]
8,5
8,9
7,8
9,1
Glukose [mg/dl]
282
264
250
213
Laktat [mg/dl]
94,3
94,9
85,1
73,9
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Im Schockraum verlief die weitere Versorgung entsprechend den geltenden Algorithmen. Im Gesichts- und Halsbereich, am Rücken und an den Extremitäten zeigten die Schnittverletzungen bei verbesserter Hämodynamik nun teils aktive Blutungen. Einige dieser Verletzungen wurden bereits prähospital mit Verbänden versorgt, die restlichen wurden provisorisch mittels Klammernahtgerät verschlossen. Im eFAST konnte erneut ein Perikarderguss bzw. freie Flüssigkeit im Bauchraum ausgeschlossen werden. Die Massivtransfusion und Gerinnungstherapie wurden gestützt von Point-of-Care-Diagnostik fortgeführt. In der CT-Traumaspirale gab es keinen Hinweis auf Verletzungen der großen Gefäße, intrathorakaler oder intraabdomineller Organe.
Hiernach kam der Patient zur Versorgung der multiplen Verletzungen in den Operationssaal. Insgesamt wurde der Patient in einer achtstündigen Operation versorgt, unter anderem wurde eine explorative Laparotomie aufgrund des Verletzungsmusters durchgeführt, jedoch zeigte sich keine Verletzung der Bauchorgane oder großen Gefäße. In der initialen klinischen Versorgung waren die Transfusion weiterer 8 EK, 14 FFP und 2 THK sowie die Verabreichung von 6 g Fibrinogen neben kristalloiden Vollelektrolytlösungen erforderlich. Die Durchführung der Point-of-Care-Diagnostik erfolgte im Rahmen der Schockraumbehandlung verspätet. Hier zeigten sich keine Hinweise auf eine Hyperfibrinolyse. Abb. 2 zeigt die Rotationsthrombelastographie nach Gerinnungsoptimierung im Schockraum und hämodynamischer Stabilisierung. Zusammenfassend wurden folgende Verletzungen festgestellt:
Hämatopneumothorax rechts
Multiple Schnitt- und Stichverletzungen thorakal beidseits, zervikal und nuchal
Lisfranc-Luxationsfraktur und laterale Talusfraktur links sowie multiple Prellungen des Rumpfs und der Extremitäten. Retrospektiv im Rahmen der Flucht sowie durch stumpfe Traumatisierung durch den Täter entstanden
Abb. 2
Rotationsthrombelastographie nach Gerinnungsoptimierung im Schockraum, CT „clotting time“
×
Postoperativ konnte der Patient in derselben Nacht extubiert werden. Er zeigte sich wach, adäquat ohne neurologisches Defizit. Im Verlauf zeigten sich keine relevanten Infektzeichen. Nach 19 Tagen konnte der Patient aus dem Krankenhaus ohne neurologische Residuen entlassen werden.
In Tab. 2 ist das zusätzliche Personal und Equipment dargestellt, welches in dem Einsatz zur Verfügung stand.
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Diskussion
Dieser Fallbericht präsentiert den erfolgreichen prähospitalen Einsatz von invasiven Maßnahmen, erweitertem Monitoring und Blutprodukten. Durch die Verfügbarkeit des MIC konnten in Zusammenarbeit mit einem etablierten Team aus Regelrettungsdienst und RTH erweiterte notfallmedizinische Maßnahmen durchgeführt werden.
In diesem Fallbericht wurde die Transfusion um 07:40 Uhr über einen 13F-Shaldon-Katheter gestartet. In einem fiktiven Szenario, in dem der Primärnotarzt um 07:20 Uhr nach i.v.-Zugang, Intubation und Thorakostomie in die nächste geeignete Klinik gefahren wäre, hätte eine Transfusion frühstens um 07:49 Uhr begonnen. Somit wurde ein Zeitvorteil von mindestens 9 min erreicht, mit dem Zusatz, dass ein verlässliches Blutdruckmonitoring und ein 13F-Shaldon-Katheter für die Massivtransfusion bereits etabliert waren. Ein Rendezvous mit dem MIC wäre eine theoretische Option gewesen. Aufgrund des sequenziellen Eintreffens von RTH und MIC innerhalb von sechs Minuten ist ein möglicher Zeitvorteil unklar. Die hier beschriebenen Maßnahmen sind aktuell in Großteilen Deutschlands nur in der Klinik verfügbar. In Anbetracht der multiplen Verletzungen und der Morphologie der stammnahen Wunden war eine suffiziente Blutstillung mittels Druckverbänden oder manueller Kompression nicht durchführbar. Die Verletzungen, welche mit aktiver Blutung erkannt wurden, wurden im Rahmen der Versorgung mit einem Verband und manuellem Druck im Gesichtsbereich versorgt. Obgleich erweiterte therapeutische Maßnahmen zur Verfügung stehen, sollten die Basismaßnahmen der Traumaversorgung hinsichtlich des Blutungsstopps zu jeder Zeit der Versorgung beachtet und adressiert werden. In diesem Zusammenhang kann eine prähospitale Nutzung von Klammernahtgeräten in Erwägung gezogen werden. Diese könnten den Vorteil eines schnellen provisorischen Wundverschlusses an Körperstellen bieten, die einem Druckverband schlecht oder nur zeitaufwendig zugänglich sind.
Trotz der aktuell ambivalenten Datenlage zum Benefit der prähospitalen Transfusion kann basierend auf vorhandenen Vitalparametern, bestehender Infrastruktur und Beachtung der prähospitalen Versorgungszeit eine Notfalltransfusion bei Patienten im hämorrhagischen Schock begonnen werden [7, 13, 21‐23]. In diesem Fallbericht kamen zwei Rettungsmittel mit der Möglichkeit der prähospitalen Transfusion zum Einsatz. Das MIC verfügt regelhaft über 6 EK, 4 g Fibrinogen und 2000 IE PPSB, zusätzlich ist der RTH mit 3 EK und 3 Lyoplasmen ausgerüstet. Zur Vermeidung und Therapie der letalen Trias wurden alle Blutprodukte sowie 1 l kristalloide Infusion über einen mobilen Blut‑/Infusionswärmer appliziert [24]. Bezüglich der prähospitalen Transfusion konnte in randomisierten Studien ein Trend für eine Verbesserung der Mortalität nach 3 h festgestellt werden. Allerdings gab es aufgrund der nicht dafür ausgelegten Fallzahl keinen statistisch signifikanten Unterschied in der Transfusionsgruppe [15]. Der Blood Transfusion Need Score betrug in diesem Fall retrospektiv ermittelt 13 (von 17), was mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für eine benötigte Transfusion einhergeht. Auch wenn dieser Score retrospektiv erhoben wurde, deckte sich dieser mit der klinischen Einschätzung der notwendigen prähospitalen Transfusion [25]. Die Etablierung klarer Empfehlungen und Checklisten/Handlungspfade in Systemen, die prähospitale Blutprodukte vorhalten, ist erforderlich. Diese sollten primär dazu dienen, das Problem der sorgfältigen Patientenselektion und Situationsbewältigung zu adressieren. Alle prähospitalen Transfusionen des MIC werden in einer Studiendatenbank erfasst und wissenschaftlich begleitet. Die genannten Daten bieten in Zukunft die Möglichkeit, Zeiten für einzelne Maßnahmen zu erfassen und im Verlauf in die Entscheidungsfindung der prähospitalen Teams zu inkludieren. Die prähospitale Applikation von Fibrinogen wird kritisch diskutiert. Das Team hat sich bewusst gegen eine Gabe entschieden, da in der Cryostat-2-Studie die Subgruppe der penetrierenden Verletzungen ein signifikant schlechteres Überleben hatte [26]. Kritisch zu beurteilen ist, dass in der Studie nicht zwischen einem penetrierenden Trauma ohne relevante Blutung (aber mit dem Verdacht darauf) und jenem mit aktiver Blutung unterschieden wurde. Daher kann abschließend nicht der Vorteil der Fibrinogengabe beim verblutenden Patienten mit penetrierender Verletzung beurteilt werden.
Innerhalb der ersten Stunde nach Trauma wurden lebensrettende Maßnahmen am Notfallort, wie die endotracheale Intubation, Transfusion, beidseitige Minithorakotomie und die „goal-directed therapy“ mittels arterieller Blutdruckmessung, durchgeführt. Laut Jahresbericht 2023 des TraumaRegister® der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie beträgt die mediane Zeit bis zur ersten Transfusion ab Schockraumaufnahme 51 min. Hinzu kommt eine mediane prähospitale Versorgungszeit von 66 min, sodass in diesem Fall ein signifikanter Zeitvorteil durch den Einsatz von speziellen Ressourcen erzielt wurde. Dennoch sollte, wie in der DGU-S3-Leitlinie Polytrauma erwähnt, immer kritisch abgewogen werden, ob eine Transfusion vor Ort sinnvoll erscheint, insbesondere im Hinblick auf die Verzögerung der prähospitalen Versorgungszeit [7]. Im vorliegenden Fall wurde die Verzögerung der Versorgungszeit kritisch mit der notwendigen hämodynamischen Stabilisierung zur Abwendung von Endorganschäden abgewogen und die Entscheidung zur Transfusion getroffen, da trotz der Volumen- und Katecholamintherapie keine permissive Hypotension erreicht werden konnte. Prähospital nicht durchgeführte Maßnahmen erzeugen keinen Gesamtzeitvorteil für den Patienten, weshalb eine unversorgte Load-and-go-Strategie kritisch zu hinterfragen ist [27]. Diese Strategie führt zu einer Verzögerung, bis notwendige Maßnahmen durchgeführt werden.
Der erste abgeleitete invasive Blutdruck wurde mit 50 mm Hg syst. dokumentiert, was die klinische Einschätzung unterstützte. Die permissive Hypotonie kann für Patienten mit hämorrhagischem Schock einen Überlebensvorteil gegenüber der konventionellen Therapie bieten. Außerdem kann sie den Blutverlust und den Verbrauch von Blutprodukten verringern. Eine Metaanalyse ergab, dass die permissive Hypotension bei Patienten mit traumatischem hämorrhagischem Schock im Verhältnis zur Sterblichkeit signifikante Vorteile bietet. Sie verringerte den Bedarf an Bluttransfusionen und das Auftreten von akutem Lungenversagen und multiplen Organdysfunktionen [28]. Allerdings sind die meisten Studien zu diesem Thema nicht ausreichend aussagekräftig, sodass weiterhin der Bedarf an qualitativ hochwertigen Studien zu diesem Themenbereich besteht.
In einer weiteren Metaanalyse ziehen die Autoren den Schluss, dass die idealen Blutdruckziele für eine permissive Hypotension nach wie vor unklar sind [29].
Vorteile der prähospitalen invasiven Blutdruckmessung liegen in den validen Messungen ohne weitere Verzögerung, sobald der Katheter platziert wurde. Dies verhindert z. B. einen (Re‑)Arrest, ein Wiedereinsetzen des Spontankreislaufs kann frühzeitig erkannt werden oder die permissive Hypotonie kann adäquat und zuverlässig durchgeführt werden, ohne das Risiko eines „Blindflugs“ zwischen zwei Messintervallen zu haben [30]. Diese Vorteile sollten gegen einen möglichen Zeitverlust fallbasiert abgewogen werden. Alternativ kann bei oszillometrisch nicht messbarem Blutdruck eine manuelle Palpation erfolgen. In diesem Fallbericht wurde intervallmäßig die A. carotis palpiert und ein schwach tastbarer Puls festgestellt. Die manuelle Palpation birgt das Risiko eines falsch-negativen Befunds (Kreislaufstillstand vorhanden, „Puls vorhanden“).
Auch wenn die aktuell zur Verfügung stehende Literatur in Bezug auf die prähospitale Hämotherapie uneindeutig ist, stehen auch Daten zur Verfügung, die eine frühzeitige Transfusion favorisieren [22, 23, 31]. In der Arbeit von Brown et al. konnte nachgewiesen werden, dass die prähospitale Gabe von EK mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für ein 24-Stunden-Überleben assoziiert war. Darüber hinaus zeigte sich, dass sich durch die prähospitale Transfusion das Risiko eines Schocks verringert und der Bedarf an EK über 24 h reduziert wird [22]. Eine prähospitale Vollbluttransfusion ist aktuell in Deutschland nicht möglich. Ob es einen Unterschied zwischen Vollblut und der Gabe von Erythrozytenkonzentraten gibt, wird aktuell in einer Studie in England untersucht [32].
Die prähospitale Gabe von Plasma führte zu einer Reduktion der Mortalität [13].
Durch die Etablierung des Code-Red-Protokolls im traumatologischen Schockraum ist eine nahtlose adäquate Weiterversorgung gegeben. Die Alarmierung kann einerseits bei einer transfusionspflichten Hämorrhagie oder der Notwendigkeit einer REBOA oder Notfallthorakotomie erfolgen. Als physiologische Alarmtrigger sind eine aktive Blutung und hämodynamische Instabilität definiert. Grenzwerte für Vitalparameter oder bereits durchgeführte Therapie sind nicht festgelegt [33]. Die bereits oben genannten Zeiten aus dem DGU-Jahresbericht stellen sicherlich einen Mittelwert der Versorgungsrealität in Deutschland dar. Die Beantwortung der Frage, ob diese Zeit bei etabliertem Code-Red-Schockraumprotokoll verkürzt wäre, ist wissenschaftlich zurzeit nicht möglich. Sollte es durch die Etablierung solcher Schockraumprotokolle zu einer Verkürzung der innerklinischen Zeit bis zur ersten notwendigen Transfusion kommen, muss diese selbstverständlich in die Abwägung zur prähospitalen Transfusion und der damit „gewonnenen“ Zeit einfließen. Bei dem vorgestellten Einsatz waren 10 Personen (5 × Rettungsdienstfachpersonal, 5 × Notärzte) beteiligt.
Ein derart hoher Ressourcenaufwand kann unter Umständen erforderlich sein, um parallel (horizontaler Versorgungsansatz) erweiterte Maßnahmen in der Notfallmedizin durchführen zu können, ohne die prähospitale Versorgungsdauer deutlich zu verlängern. Allerdings ist eine kritische Abwägung erforderlich, für welche Einsatzszenarien der hohe Ressourcenaufwand im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung sowie der sich immer mehr verdichtenden generellen Ressourcenknappheit in Gesundheitssystemen gerechtfertigt ist. Dennoch ist es aus Sicht der Autoren empfehlenswert, zur Gewährleistung einer innerklinischen Weiterbehandlung bereits prähospital, sofern dies möglich ist, den gleichen Standard anzustreben.
Bei allen derzeit zur Verfügung stehenden zusätzlichen Versorgungssystemen wie z. B. MIC, Oberarzt-NEF etc. besteht ein möglicher Nachteil in einer zumeist durch die Nachalarmierung bedingten Zeitverzögerung. Wie bereits erörtert, stellt die Identifizierung von Patienten, die von erweiterten Maßnahmen profitieren könnten, weiterhin eine anspruchsvolle Aufgabe dar. Hierbei könnten sowohl Scoring-Systeme als auch BGA-Geräte mit zusätzlicher Fibrinogenbestimmung zur Abschätzung einer Transfusionsnotwendigkeit eingesetzt werden. Allerdings sollten in diesem Zusammenhang auch technische Hindernisse wie die Temperaturabhängigkeit der Geräte verbessert werden. Im vorliegenden Fall konnte trotz Vorhaltung des BGA-Gerätes im Gebäude der Hubschrauberbasis (nicht im freistehenden Hubschrauber) sowie im vorgeheizten RTW nicht durchgeführt werden. Nach den Regeln der Wärmelehre können diese Geräte selbst bei normalen Außentemperaturen nicht so schnell aufgeheizt werden.
Zusammenfassend wurde im vorliegenden Fall eine kritische Abwägung hinsichtlich eines sofortigen Transports unter instabilen Bedingungen mit möglicherweise erhöhtem Risiko für Endorganschäden und Kreislaufstillstand gegenüber einer Versorgung vor Ort vorgenommen. Primäres Ziel war es, eine permissive Hypotension zu erreichen und damit das Risiko für Folgeschäden zu senken. Obgleich ein penetrierendes Trauma mit Verletzungen in der „cardiac box“ vorlag, hätte eine prähospitale Notfallthorakotomie in diesem Fall aus Sicht der Autoren keinen Nutzen erbracht und wurde daher nicht durchgeführt.
Die erweiterten prähospitalen Maßnahmen, inklusive der Transfusion von Blutprodukten, führten zu einer Stabilisierung der Hämodynamik auf niedrigem Niveau und ermöglichten einen sicheren Transport zur definitiven Versorgung. Die in diesem Fallbericht geschilderten Therapieentscheidungen resultierten in einem Überleben des Patienten ohne neurologische Defizite.
Schlussfolgerung
Der Einsatz spezialisierter Rettungsmittel eröffnet die Möglichkeit, Maßnahmen zu ergreifen, die sich bei einem sinnvollen taktischen Einsatz positiv auf das Überleben des Patienten auswirken können. Die Identifikation von Patienten, die möglicherweise von erweiterten Maßnahmen profitieren, stellt nach wie vor eine anspruchsvolle Aufgabe dar. Es ist im Einzelfall abzuwägen, ob die ausreichende Durchführung einer adäquaten Erstversorgung mit schnellem Transport nicht von größerem Nutzen für den Patienten ist. Um eine umfassende Bewertung vornehmen zu können, ist es erforderlich, weitere Forschungsarbeiten in diesem Gebiet durchzuführen.
Fazit für die Praxis
Im Rahmen der Implementierung erweiterter Maßnahmen am Notfallort ist ein Fokus auf eine suffiziente Basisversorgung zu legen.
Erweiterte Maßnahmen am Notfallort können bei langen Distanzen bis zur Weiterversorgung einem Scoop-and-run-Prinzip überlegen sein, wenn es zur Stabilisierung des Patienten erforderlich ist.
Durch intensiven Ressourceneinsatz ist es möglich, notwendige Maßnahmen in einem horizontalen Versorgungsansatz simultan abzuarbeiten.
Bei schwer verletzten Patienten mit nicht beherrschbarer Blutung kann die Gabe von prähospitalen Blutprodukten bei Verfügbarkeit erwogen werden, sofern der Transport in die Klinik nicht wesentlich verzögert wird.
Eine exakte Indikation für die prähospitale Gabe von Blutprodukten sollte anhand weiterer Studien identifiziert werden.
Durch eine Fokussierung auf ausgewählte Maßnahmen (Basismaßnahmen + prähospitale Transfusion) könnte ein Vorteil für Patienten erzielt werden.
Die Implementierung innerklinischer Weiterversorgungskonzepte, wie beispielsweise des „Code-Red-Schockraumkonzepts“, sind unbedingt erforderlich.
Danksagung
Wir danken Prof. Dr. M.A. Weigand und der Sektion Notfallmedizin für die Unterstützung bei der Durchführung der Arbeit.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
D.D. Uzun, M. von der Forst, C. Simon, J. Fricke, M. Dietrich, E. Popp und S. Katzenschlager geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patient/-innen zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern/Vertreterinnen eine schriftliche Einwilligung vor.
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„Exsanguination“ nach multiplen Messerverletzungen im ländlichen Raum – Fallbericht einer erfolgreichen prähospitalen Transfusion durch den gezielten Einsatz von speziellen Rettungsmitteln
verfasst von
Dr. med. Davut Deniz Uzun Maik von der Forst Christoph Simon Jonas Fricke Maximilian Dietrich Erik Popp Stephan Katzenschlager