Die Gesundheitssysteme haben sich weltweit in den letzten 20 Jahren stark verändert und werden auch in Zukunft vor große Herausforderungen gestellt, sodass bestehende Konzepte überdacht und reformiert werden müssen. Die Zunahme der Inzidenz und Prävalenz nichtübertragbarer Krankheiten, die stetig ansteigende Lebenserwartung sowie das Auftreten neuer Erkrankungen und pandemischer Krisen, wie COVID-19, werden die Gesundheitssysteme vor neue Herausforderungen stellen (WHO
2023; RKI
2023; Yi et al.
2020) – so auch in Deutschland. Gleichzeitig werden Maßnahmen zur Kostensenkung, wie etwa verkürzte Klinikaufenthalte, Verkauf, Verkleinerung und Schließung von Krankenhäusern sowie Forderungen zu mehr effektiven Präventionsmaßnahmen und vorrangig ambulanter statt stationärer Behandlungen („ambulant vor stationär“) nachdrücklicher (Minz et al.
2023; Statistisches Bundesamt
2022; Effertz
2023; SGB XII
2003), sodass zunehmend eine Verlagerung der Gesundheitsversorgung von den Krankenhäusern in den ambulanten Sektor zu erwarten ist. Strukturen, um diesen Bedarf an ambulanten Leistungen künftig zu decken, sind noch nicht ausreichend geschaffen, sodass es fraglich ist, wo Patientinnen und Patienten mit entsprechenden Bedarfen aufgefangen werden. Möglich wäre, dass Menschen vermehrt – als erste Anlaufstelle im Gesundheitssystem – die Strukturen der Primärversorgung beanspruchen, um ihre Anliegen zu adressieren. Eine qualitative und quantitative Zunahme des Versorgungsbedarfes in diesem Sektor könnte die Folge sein. Die Primärversorgung, bei der insbesondere der hausärztlichen Versorgung eine tragende Rolle zukommt, wird aktuell in Deutschland nahezu ausschließlich durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte realisiert. Eine Primärversorgung, die den künftigen Herausforderungen gewachsen ist und gleichzeitig die komplexen Bedarfe der Versorgten in den Blick nimmt, kann lediglich interprofessionell organisiert gelingen, indem die Kompetenzen verschiedener Gesundheitsberufe zusammengeführt und synergetisch genutzt werden. Seit vielen Jahren schon ist die Versorgung durch interprofessionelle Teams Gegenstand von Forschung und ihre Überlegenheit gegenüber der Regelversorgung – auch in krisenhaften Zeiten mit hohem Versorgungsaufkommen – wissenschaftlich belegt (Ruddy und Rhee
2005; Wynn und Moore
2012).
Ansätze primärversorgender interprofessioneller Verantwortungsübernahme sind beispielsweise in Form von Community Health Centers im skandinavischen Raum und in Kanada zu finden. In den durch Regionalisierung gekennzeichneten Gesundheitssystemen gestalten verschiedene Professionen gemeinsam die Primärversorgung einer bestimmten Region oder eines Stadtteils (Raslan
2019). Eine Schlüsselrolle kann in diesem Gefüge die Community Health Nurse (CHN) einnehmen. Akademisierte Pflegende, die mit erweiterten Kompetenzen ausgestattet sind, versorgen und beraten eigenständig und planen bedarfsorientiert Angebote der Gesundheitsförderung und Prävention auf kleinräumiger Ebene. Sie arbeiten gut vernetzt, interprofessionell und haben die Kompetenz, Versorgungsprozesse zu steuern, Bedarfe der von ihr versorgten Community zu erheben und zu bündeln und anschließend unter Einbezug aktueller wissenschaftlicher Wissensbestände evidenzbasierte und zielgruppenspezifische Informations‑, Beratungs- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen zu entwickeln und zu implementieren (Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe e. V.
2022).
Durch den Einsatz von akademisierten Pflegenden kann die Versorgungsqualität gesteigert werden. Mit Beginn der Akademisierung der Pflege in Europa in den 1950-Jahren begann auch die Forschung in diesem Gebiet. Seither konnte international in zahlreichen Untersuchungen die verbesserte Versorgungsqualität, beispielsweise zum Einsatz von Nurse Practitioners (NP) oder Advanced Practice Nurses (APN), im primärversorgenden Setting und in interprofessionellen Teams, hinreichend belegt werden (Pilon et al.
2015; Sibbald et al.
2006; Schaeffer
2017). Untersuchungen speziell zu CHN (als eine Form der APN, die sektorenübergreifend und mit speziellem Fokus auf die Versorgung einer bestimmten Community arbeitet) (Deutscher Pflegerat
2022) konnten positive Effekte in der Versorgung zeigen. Chronisch Erkrankte, die an eine CHN-Struktur angebunden sind, konnten deutliche Verbesserungen z. B. hinsichtlich klinischer Parameter, gesundheitsförderndem Verhalten und des Selbstmanagements verzeichnen (Wood-Baker et al.
2012; Chan et al.
2013; Kitiş und Emiroğlu
2006). Schwer erreichbaren Zielgruppen konnten Zugänge zu Leistungen der Primärversorgung ermöglicht werden (Su et al.
2015). Empirische Untersuchungen zum Einsatz von CHN während der COVID-19-Pandemie gibt es bisher kaum. Erste Berichte weisen jedoch darauf hin, dass CHN wichtige Versorgungsaufgaben in dieser Zeit übernahmen und dazu beitrugen, die Versorgung auch von vulnerablen Zielgruppen aufrechtzuerhalten (Kim et al.
2023; Yi et al.
2020). Dem internationalen Vorbild folgend, wird nun auch in Deutschland CHN als ein zukunftsträchtiges Modell in einer sektorübergreifenden, gemeindenahen Gesundheitsversorgung diskutiert, und Bestrebungen der Implementierung werden konkreter. Der aktuelle Koalitionsvertrag beinhaltet erstmalig die Empfehlung für die Etablierung von CHN in Deutschland (SPD
2021). Im Zuge der Pflegereform 2021/2022 streben die Koalitionsparteien zudem eine Aufwertung des Pflegeberufs an, beispielsweise durch die Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten durch entsprechend qualifizierte Pflegende (Deutscher Bundestag
2021). Ein Referentenentwurf zur Stärkung der Pflegekompetenz von September 2024 stützt und konkretisiert dieses Vorhaben (BMG
2024b). Parallel werden modellhaft gemeindenahe Primärversorgungszentren als ein Einsatzgebiet für CHN initiiert, wie etwa die Poliklinik in Hamburg-Veddel
1 oder das Gesundheitskollektiv in Berlin
2 als Teile des bundesweiten Poliklinik-Syndikats
3. Konzeptuelle und rechtliche Fragen werden diskutiert, um die Implementierung von CHN als eigenständiges Rollenbild in der Primärversorgung auf den Weg zu bringen. Master-Studiengänge, die professionell Pflegende ausbilden und mit erweiterten Kompetenzen ausstatten, werden beständig (weiter)entwickelt (Völkel et al.
2022), und die ersten Absolventinnen und Absolventen betreten das Berufsfeld. Modellprojekte zur Erprobung der Übertragbarkeit internationaler CHN-Konzepte ins deutsche Gesundheitssystem werden aktuell umgesetzt, wie etwa in den PORT-Zentren (Patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung) der Robert-Bosch-Stiftung oder in den Hamburger lokalen Gesundheitszentren, in denen CHN-Stellen finanziert sind (Raslan
2019; BAGSFI
2019). Es fehlt jedoch bislang an empirischen Untersuchungen zur Wirksamkeit der CHN-Rolle in der deutschen Primärversorgung. Der vorliegende Beitrag zielt drauf ab, die Wirksamkeit der CHN am Beispiel der Versorgung chronisch Erkrankter und ihrer Krankheitsverarbeitung zu beleuchten und somit mögliche Potenziale von CHN in der Primärversorgung für Deutschland aufzuzeigen. Dafür wurden erstmalig in Deutschland im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie, dem CoSta-Projekt (13FH019SX8), von CHN durchgeführte Interventionen – eingebunden in ein interprofessionelles Team eines Primärversorgungszentrums – empirisch begleitet und deren Wirksamkeit auf das Krankheitsgeschehen der versorgten Personen ausgewertet. Psychische Faktoren, wie beispielsweise die Art der Krankheitsverarbeitung eines Menschen, sind entscheidende Einflussfaktoren auf den weiteren Krankheitsverlauf. Die Krankheitsverarbeitung wird definiert als dynamische kognitive und verhaltensbezogene Anstrengung, um interne und/oder externe belastende Anforderungen zu bewältigen (…) (frei übersetzt; Lazarus und Folkman
1984). Je nach Eigendynamik und Verlauf der Erkrankung müssen Betroffene über Jahre bis Jahrzehnte hinweg wechselnde Phasen bedingter Gesundheit und Krankheit managen; diese erfordern ständig neue Verarbeitungsleistungen (Sharoff
2007). Durch die Erhebung des Copings wird die Wahrnehmung auf die Krankheitssituation aus Betroffenenperspektive sichtbar und kann in die Behandlung einbezogen werden, um beispielsweise die Compliance zu erhöhen (Cipher et al.
2002). In der vorliegenden Studie wird speziell der Aspekt der Krankheitsverarbeitung untersucht.