In dieser retrospektiven Analyse von Protokollen der NotärztInnen in Jena, einer mittelgroßen deutschen Stadt, konnten wir zeigen, dass unabhängig vom Alter und vom Geschlecht die Raten notärztlicher Einsätze in Wohnortnähe für Patienten mit niedrigerem SES im Vergleich zu jenen mit höherem SES um ein Drittel höher liegen. Wir konnten auch zeigen, dass bei PatientInnen mit einem niedrigeren SES psychiatrische Erstdiagnosen um 63 % und pulmonale Erstdiagnosen um 37 % häufiger sind als für PatientInnen mit einem höheren SES. Zwischen dem Schweregrad der Erkrankung nach NACA-Score und dem SES gab es keinen signifikanten Zusammenhang.
Literaturvergleich
Vergleichbare Studien aus Deutschland haben ähnliche Ergebnisse wie unsere Arbeit gezeigt. Luiz und Kollegen konnten anhand von Daten aus dem Jahr 1997 zeigen, dass es auf Aggregatebene eine Assoziation zwischen dem Anteil an Sozialhilfeempfängern in bestimmten Stadtgebieten und der Einsatzinzidenz der NotärztInnen gab [
11]. Außerdem konnten bei PatientInnen, die über das Sozialamt der Stadt versichert waren, im Vergleich zu PatientInnen der anderen Krankenversicherungen signifikant mehr psychiatrische und psychosoziale Notfälle festgestellt werden. Engel und Kollegen zeigten mit Daten aus dem Jahr 2006 für die Stadt Münster, dass in Stadtteilen mit einem höheren Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern die notärztlichen Einsatzraten höher lagen [
6]. Diese beiden Studien wurden nicht für Risikofaktoren adjustiert. Hahnefeld und Kollegen berichteten nach einer alters- und geschlechtsadjustieren Analyse, dass die notärztliche Einsatzrate mit der Arbeitslosenquote der Wohngebiete in der Stadt Bochum anstieg, wobei sich kein eindeutiger Unterschied zwischen den Erkrankungsgruppen zeigte [
8]. Auch internationale Studien zeigten ähnliche Ergebnisse: Søvsø und Kollegen untersuchten die Zahl der Notrufe in einem ländlichen Gebiet in Dänemark. Sie stellten fest, dass Menschen mit einem niedrigeren Einkommen häufiger den Notruf wählten als als jene mit einem höheren Einkommen [
16]. Aitavaara-Anttila beobachteten, dass in Finnland der Einsatz von Rettungsdiensten in ländlichen Gebieten und bei Personen mit dem niedrigsten sozioökonomischen Status (SES) am höchsten war [
2].
Im Unterschied zu vorangegangen Studien lag unserer Definition des SES nicht nur eine Dimension, sondern insgesamt 17 Kontextindikatoren wie Wohnsituation, Altersarmut und Migrationshintergrund zugrunde. Im Vergleich zu einzelnen Kriterien wie der Arbeitslosenquote kann mit den Kontextindikatoren auch der SES von Menschen in Sorgearbeit, Alleinerziehenden, Kindern und Rentnern berücksichtigt werden [
3]. Alle bisherigen Studien wurden in Westdeutschland durchgeführt, unsere zeigt erstmals Ergebnisse aus den neuen Bundesländern. Für alle unsere Endpunkte konnten zusätzlich das Alter und Geschlecht der PatientInnen in der Analyse berücksichtigt werden.
Erklärungsansätze
Für die höhere Rate an notärztlichen Einsätzen gibt es verschiedene Erklärungsansätze: Patienten in Gebieten mit niedrigerem SES könnten generell schwerer erkrankt sein, oder NotärztInnen wurden in Gebieten mit niedrigerem SES übermäßig in Anspruch genommen. In diesem Zusammenhang stellte das Resultat des ähnlichen NACA-Scores in Gebieten mit unterschiedlichen SES eine wichtige Information dar. Der generell höhere Anteil an notärztlichen Einsätzen bei Patienten bei einem vergleichbaren NACA-Score lässt eher den Schluss zu, dass Patienten in Gebieten mit niedrigem SES häufiger erkrankt waren. Eine höhere Beanspruchung durch einen missbräuchlichen Einsatz hätte sich wahrscheinlich in einem niedrigeren NACA-Score wiedergefunden. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass in den Industrieländern ein niedrigerer SES mit mehr Risikofaktoren, Komorbiditäten und einer höheren Mortalität assoziiert ist [
9,
15,
19], in unserem Datensatz waren es vor allem die pulmonalen und psychiatrischen Erstdiagnosen die in den sozioökonomisch benachteiligten Gebieten häufiger vorkamen. Dies lässt sich möglicherweise durch zwei Umstände begründen:
1.
Höhere gesundheitliche Belastung
2.
Erschwerter Zugang zu medizinischen Versorgungseinrichtungen für Menschen, die in diesen Gebieten leben
So konnten beispielsweise ungleiche Verteilungen an psychotherapeutischen Einrichtungen in den unterschiedlichen Stadtgebieten von Jena beobachtet werden. Während in den sozioökonomisch höher eingestuften Stadtgebieten insgesamt 55 TherapeutInnen ansässig waren, gab es in den Fördergebieten lediglich eine psychotherapeutische Praxis [
18]. Wir konnten keine unmittelbare Begründung für die höhere Rate an pulmologischen Erstdiagnosen finden, allerdings könnte eine höhere Rate an Lungenerkrankungen bei Menschen mit niedrigerem SES ursächlich sein. Studien haben gezeigt, dass ärmere Bevölkerungsgruppen ein höheres Risiko für eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD) haben, wobei auch Faktoren wie die Ernährung, überfüllte Wohnräume, eine höhere Schadstoffexposition und ein höherer Raucheranteil dazu beitragen können [
12].
Limitationen und Stärken
Unsere Studie hat Limitationen und Stärken. Für die vorliegende Analyse haben wir uns den notärztlichen Einsätzen, nicht aber den gesamten Einsätzen des Rettungsdiensts gewidmet, was uns auch eine Analyse der notärztlichen Diagnosen und der Erkrankungsschwere ermöglicht hat. Die Gesamtheit der Rettungseinsätze (sowohl ärztliche als auch nichtärztliche) zu analysieren, könnte ein umfassenderes Verständnis der Beziehung zwischen dem SES und den Einsätzen des Rettungsdiensts ermöglichen.
Wir haben als Aggregatmerkmal des SES das Wohngebiet verwendet, da in den notärztlichen Einsatzprotokollen üblicherweise keine Daten zu individuellen PatientInnenfaktoren wie Bildung, Beruf oder Einkommen erfasst werden. Ein Nachteil ist, dass der Einfluss einzelnen Faktoren nicht differenziert werden kann. Im Gegensatz dazu kann der sozioökonomische Status einer Gemeinschaft, z. B. eine höhere Kriminalitätsrate, ungünstigere Wohnbedingungen und höhere Umweltbelastungen, ein besserer Indikator für die Lebensbedingungen in einem Wohngebiet sein. Der gemeinschaftliche SES liefert ein umfassenderes Bild des durchschnittlichen sozioökonomischen Status einer Gruppe und ihrer gemeinsamen Herausforderungen in bestimmten geografischen Gebieten. So könnte er besser geeignet sein, den Einfluss des SES auf Gesundheitsparameter zu beurteilen und eine örtliche Bedarfsplanung für ambulante medizinische Einrichtungen zu unterstützen, als der individuelle SES. In einer idealen Studie sollten sowohl individuelle als auch Aggregatparameter vorhanden sein, um den Einfluss des individuellen SES als auch den Einfluss des SES der Umgebung analysieren zu können.
Um eine möglichst gut abgrenzbare Definition des SES der Studienteilnehmer zu erhalten, mussten wir jene Studienteilnehmer ausschließen, bei denen der Einsatzort und der Wohnort nicht übereinstimmten. Um abschätzen zu können, ob es dadurch zu einer möglichen Verzerrung unserer Resultate gekommen ist, haben wir eine Post-hoc-Analyse nur mit diesen Patienten gemacht.
Wir konnten feststellen, dass es bei Patienten, die in den Gebieten mit niedrigerem SES wohnhaft waren, doppelt so hohe Einsatzraten gab wie bei jenen, die aus Gebieten mit höherem SES stammten (4,9 versus 2,9/1000 Einwohner). Dies lässt den Rückschluss zu, dass wir durch den Ausschluss dieser Teilnehmer den Effekt eher unterschätzt haben.
Über die Notarztprotokolle waren leider keine zusätzlichen patientenbezogenen Risikofaktoren oder Komorbiditäten abrufbar. Diese hätten als zusätzliche Faktoren in das multivariable Modell eingefügt werden können. Damit hätte man weiter untersuchen können, ob die höheren Einsatzraten durch den SES als individuellen und unabhängigen Risikofaktor oder auf gesundheitliche Rsiskofaktoren und Komorbidäten als Confounder zurückzuführen sind. Andererseits sind Risikofaktoren und Gesundheitsverhalten auch häufig eng mit dem SES verknüpft und können auch als Summe des Gesamtrisikos beurteilt werden.
Intoxikationen wurden gemäß der digitalen Notfallprotokolle den psychiatrischen Erstdiagnosen zugeordnet. Eine differenzierte Auswertung aus Würzburg zeigt, dass Intoxikationen mit Drogen oder Alkohol 43 % aller psychiatrischen Notfälle ausmachten, wobei Erregungszustände in Kombination mit Alkohol- und Drogenmissbrauch in den sozialen Problembereichen einer Stadt häufiger auftraten [
14].
In unserer Studie haben wir die NACA-Scores zur Beurteilung der Schwere der Erkrankung verwendet. Dieser Score ist weit verbreitet und international anerkannt, aber er beruht auf subjektiven Kriterien und ist daher stark von der Einschätzung des jeweiligen Beurteilenden abhängig. Der modifizierte Münchner (m)NACA-Score bietet aufgrund der Klassifizierung nach objektiven Parametern die Möglichkeit einer präziseren und homogeneren Bewertung der Schwere der Erkrankung.
Wesentliche Stärken dieser Studie sind die populationsbasierte Dokumentation der Daten, die vollständige Erhebung der notärztlichen Einsätze in Jena aus dem Jahr 2019, die angemessene Studienpopulationsgröße sowie die Alters- und Geschlechtsadjustierung aller Endpunkte.
Zusammenfassung und Ausblick
In einer Zeit, in der die Zahl der Rettungsdiensteinsätze kontinuierlich zunimmt und soziale Unterschiede tendenziell größer werden, konnten wir zeigen, dass ein niedrigerer sozialer Status in bestimmten Wohngebieten auch mit häufigeren notärztlichen Einsätzen einhergeht. Ein höherer Anteil an pulmologischen und psychiatrischen Erkrankungen könnte dazu beigetragen haben. Unsere Untersuchung wurde populationsbasiert durchgeführt und wäre auf andere demografisch ähnliche Städte in Deutschland übertragbar. Die Ergebnisse könnten als Grundlage für weitere Beobachtungstudien mit differenzierteren Determinanten dienen. Ideal wäre die Verknüpfung weiterer Datenbasen. In weiterer Folge könnten Interventionsstudien dazu beitragen, wirksame Maßnahmen zu bewerten, die eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung in sozial benachteiligten Gebieten herbeiführen und gleichzeitig eine Entlastung der Rettungsdienste und Notfallzentren bewirken.