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Open Access 12.07.2024 | Der interessante Fall

Eine Histaminvergiftung nach Thunfischkonsum

verfasst von: Prof. Dr. med. Markus Wörnle

Erschienen in: Notfall + Rettungsmedizin

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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Anamnese

Eine 50-jährige Patientin hatte an einem warmen Sommerabend in einem Restaurant ein kurz angebratenes Thunfischsteak gegessen. Wenige Minuten später kam es zu einer Rötung an Gesicht, Hals und Armen. Zudem verspürte die Patientin leichtes Kribbeln am gesamten Körper sowie Schwindel und ein Beklemmungsgefühl. Ähnliche Beschwerden seien noch nie aufgetreten. Allergien, insbesondere gegen Fisch, bestünden nicht. Thunfisch würde die Patientin regelmäßig und gerne essen. An Vorerkrankungen lag eine Hypothyreose vor, die medikamentös behandelt wurde.

Befund

In der Notaufnahme lag der Blutdruck bei 94/56 mm Hg, die Herzfrequenz bei 73/min, die Atemfrequenz bei 13/min und die Temperatur bei 36,8 °C. Im Gesicht, am Hals, am Stamm und der oberen Extremität zeigte sich ein blasses Exanthem. Die weitere körperliche Untersuchung war unauffällig. Die Ergebnisse der Laboruntersuchungen waren ebenfalls unauffällig.

Diagnose

Aufgrund des Fischverzehrs in der Anamnese, der allergieähnlichen Symptome und der allerdings hinsichtlich Allergien leeren Anamnese gingen wir von einer Histaminvergiftung aus.

Therapie und Verlauf

Unter der intravenösen Gabe von Dimetinden (4 mg), Prednisolon (250 mg) und Ringer-Infusionslösung (1000 ml) kam es zu einer raschen Besserung der Symptomatik. Nach einigen Stunden konnte die Patientin beschwerdefrei entlassen werden. Da die Patientin in unserer Klinik ambulant angebunden ist, konnte nachvollzogen werden, dass sie nach wie vor Fisch und insbesondere Thunfisch konsumiert und vergleichbare Beschwerden nicht mehr auftraten.

Diskussion

Eine Histamin- oder auch Scombroidvergiftung ist die häufigste Fischvergiftung weltweit und entsteht durch die Aufnahme von histaminkontaminiertem Fisch aus der Fischfamilie Scombridae, zu der Thunfische und Makrelen zählen. Andere Fische, die nicht zur Familie Scombridae zählen, wie etwa Sardinen, Blaufisch und selten Lachs, können ebenfalls zu einer Histaminvergiftung führen [1, 2].
Die Histaminvergiftung tritt auf, wenn die Kühlkette unterbrochen ist und sich Bakterien im Gewebe des Fischs vermehren können. Dabei wandeln diese Bakterien Histidin in Histamin um. Histamin wird auch im menschlichen Körper in verschiedenen Organen wie der Leber und der Milz, aber auch in den Mastzellen und basophilen Granulozyten produziert. Im Rahmen von allergischen Reaktionen kommt es zu einer Freisetzung von endogenem Histamin, das schließlich seine Wirkung über die Histaminrezeptoren entfaltet. Das im Rahmen der Fischvergiftung vermehrt produzierte Histamin wird beim Verzehr über den Gastrointestinaltrakt aufgenommen und führt über die Bindung an die Histaminrezeptoren zu einer klinischen Reaktion, die von einer Allergie, ausgelöst durch endogenes Histamin, nicht zu unterschieden ist. Wurde Histamin erst einmal produziert, ist es äußerst resistent gegenüber Koch‑, Räucher- oder Gefrierprozessen.
Für den Umbau von Histidin zu Histamin wird das Enzym Histidin-Decarboxylase benötigt. Zu den Bakterien, die dieses Enzym besitzen, zählen Proteus, Enterobacter, Serratia, Citrobacter, Escherichia coli, Clostridien, Vibrionen, Acinetobacter, Pseudomonas und Photobakterien [3]. Die individuelle Zusammensetzung der mikrobiellen Fauna in den Fischen hängt von einer Vielzahl an Umwelteinflüssen ab, wie z. B. von der geografischen Region, der Ernährung der Fische, der Wasserqualität und auch den hygienischen Bedingungen im Zwischen- und Endhandel. Idealerweise sollte Fisch bei einer Temperatur von 0 °C oder weniger aufbewahrt werden, um das Wachstum von Bakterien und die Aktivierung der Histidin-Decarboxylase zu verhindern. Toxische Histaminspiegel können bereits erreicht werden, wenn die Fische für 2 bis 3 h bei 20 °C oder mehr aufbewahrt werden. Selbst wenn die Bakterien dann nicht mehr lebensfähig sein sollten, bleibt die Funktion der Histidin-Decarboxylase weiterhin bestehen [4].
Die Scombroidvergiftung wurde 1799 erstmals in Großbritannien beschrieben und hielt in den 1950er-Jahren nach Ausbrüchen in Japan Einzug in die medizinische Fachliteratur [2]. In den letzten Jahrzehnten nahm der Konsum von Fisch in vielen Ländern wie den USA dramatisch zu. Führend im Verzehr von Fisch sind Japan und China. Mit steigendem Konsum nahm auch die Anzahl an Fischvergiftungen zu. Die Tatsache, dass es sich beim Fischhandel um einen globalen Markt handelt, führte dazu, dass in vielen Ländern Fälle von Fischvergiftungen auftraten, häufig auch in Kohorten wie Schulen, Militärunterkünften, aber auch auf medizinischen Fachkongressen. Die Fälle von Histaminvergiftungen werden sicher zahlenmäßig unterschätzt, da sie häufig als allergische Reaktion fehldiagnostiziert werden und keine systematische wissenschaftliche Erfassung solcher Ereignisse erfolgt.
De-novo-Fischallergien beim Erwachsenen sind selten, aber können natürlich auftreten. Die Prävalenz von Fischallergien wird auf 0,6 % geschätzt, mit gewissen Abweichungen bei Alter und ethnischer Zugehörigkeit [5]. Vor allem wenn mehrere Personen nach Fischgenuss im selben Restaurant krank werden, spricht das eher für eine Histaminvergiftung als für eine De-novo-Fischallergie.
Die Symptome gleichen denen einer Anaphylaxie wie Rötung im Gesicht, Hals, Stamm oder auch generalisiert, Bauchschmerzen, Diarrhö, Palpitationen u. a. [1].
Die Behandlung der Scombroidvergiftung unterscheidet sich in der Praxis nicht von der Therapie der Anaphylaxie. Ein wesentlicher Pfeiler der Behandlung ist der Einsatz von Antihistaminika. Hierzu existieren keine kontrollierten klinischen Studien, die etwa die Überlegenheit einer bestimmten Substanz oder der Kombination verschiedener Präparate zeigen würden. Die Behandlungsempfehlungen werden vor allem aus Fallberichten und Review-Artikeln abgeleitet. Zur Therapie von milden bis mittelschweren Symptomen spielen Histamin‑H1-Antagonisten eine wesentliche Rolle. In der internationalen Literatur werden hier häufig Diphenhydramin, Cetirizin und Chlorphenamin genannt [1]. Diese Substanzen sind in Deutschland allerdings häufig nicht verfügbar, insbesondere zur intravenösen Anwendung, oder noch nicht zur Therapie der Anaphylaxie zugelassen. In der aktuellen deutschen Leitlinie zu Akuttherapie und Management der Anaphylaxie wird aus der Gruppe der H1-Antihistaminika der Einsatz von Dimetinden empfohlen, das auch intravenös verabreicht werden kann. Die empfohlene Dosis beträgt hier gewichtsadaptiert 1 mg/10 kg Körpergewicht. In der klinischen Praxis werden häufig nur 4 mg (eine Ampulle) verabreicht, was in den meisten Fällen eine Unterdosierung bedeutet. Als Alternative zur gewichtsadaptierten Dosis können hier auch pragmatisch zwei Ampullen (8 mg) gegeben werden, da diese Dosis für die meisten Patienten gut anwendbar ist [6]. Eine Orientierung bei der Therapie der Histaminvergiftung an der nationalen Leitlinie erscheint rational. Zur Wirksamkeit von Histamin‑H2-Rezeptor-Antagonisten in der Therapie akuter anaphylaktischer Reaktionen gibt es wenig Evidenz. Die Prävention von anaphylaktischen Komplikation durch die Gabe von H2-Rezeptor-Antagonisten zusätzlich zu H1-Antihistaminika ist etwas besser belegt, wobei auch hier in den Studien methodische Probleme bestehen. Die kombinierte Gabe von H1- und H2-Rezeptor-Antagonisten kann versucht werden, allerdings ist aufgrund des Nebenwirkungsspektrums und der aktuell fehlenden EU-Zulassung einiger Präparate diesbezüglich ein eher zurückhaltendes Vorgehen sinnvoll. Die Indikation zur Gabe von Glukokortikoiden und Adrenalin bei der Histaminvergiftung entspricht der Indikation für diese Substanzen bei der Anaphylaxie. Aufgrund der durch Histamin verursachten Vasodilatation liegt eine relative Hypovolämie vor. Aus diesem Grund ist die Volumengabe vor allem bei Patienten mit Hypotonie ein wesentlicher Bestandteil der Therapie.

Fazit für die Praxis

Eine Scombroidvergiftung ist klinisch meist nicht von einer allergischen Reaktion zu unterscheiden. Eine Abgrenzung ist vor allem durch die Anamnese möglich. Die Therapie der Histaminvergiftung entspricht der Behandlung der akuten Anaphylaxie. Allerdings ist die Unterscheidung der beiden Krankheitsformen für die Patienten oft von erheblicher Bedeutung, da sie bei Vorliegen einer Vergiftung ohne Anhalt für eine Fischallergie ihre Nahrungsgewohnheiten nicht umstellen müssen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

M. Wörnle gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patient/-innen zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern/Vertreterinnen eine schriftliche Einwilligung vor.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
1.
Zurück zum Zitat Feng C, Teuber S, Gershwin ME (2016) Histamine (Scombroid) fish poisoning: a comprehensive review. Clinic Rev Allerg Immunol 50:64–69CrossRef Feng C, Teuber S, Gershwin ME (2016) Histamine (Scombroid) fish poisoning: a comprehensive review. Clinic Rev Allerg Immunol 50:64–69CrossRef
2.
Zurück zum Zitat Taylor SL, Stratton JE, Nordlee JA (1989) Histamine poisoning (scombroid fish poisoning): an allergy-like intoxication. J Toxicol Clin Toxicol 27:225–240CrossRefPubMed Taylor SL, Stratton JE, Nordlee JA (1989) Histamine poisoning (scombroid fish poisoning): an allergy-like intoxication. J Toxicol Clin Toxicol 27:225–240CrossRefPubMed
3.
Zurück zum Zitat Lopez-Sabater EI, Rodriguez-Jerez JJ, Hermandez-Herrero et al (1996) Incidence of histamine-forming bacteria and histamine content in scombroid fish species from retail markets in the Barcelona area. Int J Food Microbiol 28:411–418CrossRefPubMed Lopez-Sabater EI, Rodriguez-Jerez JJ, Hermandez-Herrero et al (1996) Incidence of histamine-forming bacteria and histamine content in scombroid fish species from retail markets in the Barcelona area. Int J Food Microbiol 28:411–418CrossRefPubMed
5.
Zurück zum Zitat Sharp MF, Lopata AL (2014) Fish allergy: in review. Clin Rev Allergy Immunol 46:258–271CrossRefPubMed Sharp MF, Lopata AL (2014) Fish allergy: in review. Clin Rev Allergy Immunol 46:258–271CrossRefPubMed
6.
Zurück zum Zitat Ring J, Beyer K, Biedermann T et al (2021) Guideline (S2k) on acute therapy and management of anaphylaxis: 2021 update: S2k-Guideline of the German Society for Allergology and Clinical Immunology (DGAKI), the Medical Association of German Allergologists (AeDA), the Society of Pediatric Allergology and Environmental Medicine (GPA), the German Academy of Allergology and Environmental Medicine (DAAU), the German Professional Association of Pediatricians (BVKJ), the Society for Neonatology and Pediatric Intensive Care (GNPI), the German Society of Dermatology (DDG), the Austrian Society for Allergology and Immunology (ÖGAI), the Swiss Society for Allergy and Immunology (SGAI), the German Society of Anaesthesiology and Intensive Care Medicine (DGAI), the German Society of Pharmacology (DGP), the German Respiratory Society (DGP), the patient organization German Allergy and Asthma Association (DAAB), the German Working Group of Anaphylaxis Training and Education (AGATE). Allergo J Int 30:1–25CrossRefPubMedPubMedCentral Ring J, Beyer K, Biedermann T et al (2021) Guideline (S2k) on acute therapy and management of anaphylaxis: 2021 update: S2k-Guideline of the German Society for Allergology and Clinical Immunology (DGAKI), the Medical Association of German Allergologists (AeDA), the Society of Pediatric Allergology and Environmental Medicine (GPA), the German Academy of Allergology and Environmental Medicine (DAAU), the German Professional Association of Pediatricians (BVKJ), the Society for Neonatology and Pediatric Intensive Care (GNPI), the German Society of Dermatology (DDG), the Austrian Society for Allergology and Immunology (ÖGAI), the Swiss Society for Allergy and Immunology (SGAI), the German Society of Anaesthesiology and Intensive Care Medicine (DGAI), the German Society of Pharmacology (DGP), the German Respiratory Society (DGP), the patient organization German Allergy and Asthma Association (DAAB), the German Working Group of Anaphylaxis Training and Education (AGATE). Allergo J Int 30:1–25CrossRefPubMedPubMedCentral
Metadaten
Titel
Eine Histaminvergiftung nach Thunfischkonsum
verfasst von
Prof. Dr. med. Markus Wörnle
Publikationsdatum
12.07.2024
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Notfall + Rettungsmedizin
Print ISSN: 1434-6222
Elektronische ISSN: 1436-0578
DOI
https://doi.org/10.1007/s10049-024-01372-9