Kindesmisshandlung kommt relativ häufig vor und die Wahrscheinlichkeit, dass Fachkräfte aus den Heilberufen mit Kindesmisshandlung in Kontakt kommen ist hoch. Außerdem sind sie bevorzugte Ansprechpersonen von betroffenen Kindern und Jugendlichen. Fachkräfte der Pflege haben hier aufgrund der längeren Kontaktzeit sowie dem geringeren hierarchischem Abstand zu Kindern, Jugendlichen und den Eltern eine besonders wichtige Rolle beim Erkennen einer Kindeswohlgefährdung. Aufgrund der Relevanz und auch Komplexität des Themas ist eine entsprechende Fortbildung dringend notwendig. Der Online-Kurs „Kinderschutz in der Medizin — ein Grundkurs für alle Gesundheitsberufe“ ist dafür ein inhaltlich umfassendes, positiv evaluiertes und zertifiziertes Angebot. Die Teilnahme am Kurs wird ab voraussichtlich Mitte Juli 2018 wieder möglich sein.
Kindesmisshandlung und -schutz sind gesellschaftlich relevante Themen, mit denen auch Fachkräfte der Heilberufe in Kontakt kommen. Fortbildung ist hier besonders wichtig, um auch kleine Anzeichen schon früh zu erkennen und Betroffene adäquat unterstützen zu können. Eine Möglichkeit dazu bietet das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Online-Kurs Kinderschutz in der Medizin — ein Grundkurs für alle Gesundheitsberufe“.
Die Häufigkeit von Kindesmisshandlung wird in Deutschland vielfach unterschätzt und die Prävalenzen haben in den vergangenen Jahren nicht abgenommen. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2017 (Witt et al.) wurde eine bevölkerungsrepräsenta-tive Stichprobe (N=2510) im Alter zwischen 14 und 94 Jahre (53,3% weiblich, 46,7% männlich) mit dem Childhood Trauma Questionnaire (CTQ) untersucht. Dies ist ein Fragebogen mit 28 Fragen zu den verschiedenen Misshandlungsformen (körperliche und emotionale Misshandlung, Vernachlässigung, sexueller Missbrauch) und das international am häufigsten eingesetzte Screening-Instrument zur Erhebung von Misshandlungen in Kindheit und Jugend (Abb. 1).
Anzeige
Abb. 1
Häufigkeit der Formen von Kindesmisshandlung (nach Witt et al. 2017)
90% der Misshandlungsfälle werden nicht erkannt
Mehr als eine Form von Misshandlung wurde von 14% der Befragten berichtet. Abgeleitet von den Häufigkeiten muss davon ausgegangen werden, dass die Fachkräfte aus den pädiatrischen Heilberufen immer wieder mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt gekommen sind, die Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch erlebt haben. Im institutionellen Kinderschutz spielen sie deshalb eine wichtige Rolle. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht allerdings davon aus, dass 90% der Misshandlungsfälle in den Institutionen wie Kliniken oder Praxen nicht wahrgenommen werden (Sethi et al. 2013).Schon vor vielen Jahren zeigten Studien, dass Pflegekräfte hierbei in einer besonderen Position sind, da sie mehr Zeit als andere Fachkräfte der Heilberufe mit den Kindern und ihren Eltern verbringen und so Interaktionsstörungen sehr früh wahrnehmen können (Frank & Räder 1994; Frank et al. 2001). Aus den Studien geht auch hervor, dass die Fähigkeit der Wahrnehmung auch von gezielten Schulungen abhängt. Während misshandlungsbedingte Verletzungen häufig visuell gut erkennbar sind, sind Zeichen von Vernachlässigung und emotionaler Misshandlung eher in der Eltern-Kind-Interaktion zu sehen.
In den letzten Jahren gab es in Bezug auf den Kinderschutz einige rechtlichen Änderungen. Die für die Intervention bei Fällen von Kindeswohlgefährdung wichtigste war die Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) im Jahr 2012. Dieses legt das Vorgehen in Fällen von Kindeswohlgefährdung fest und schafft einen Beratungsanspruch für Berufsgeheimnisträger. Die Evaluation des BKiSchG (Bundesregierung 2015) hat jedoch gezeigt, dass diese gesetzlichen Regelungen noch nicht umfassend bekannt sind und das Angebot kaum in Anspruch genommen wird. Das wird aktuell auch durch die Medizinische Kinderschutzhotline (www.kinderschutzhotline.de) bestätigt.
Fachkräfte aus den Heilberufen gehören zu den bevorzugten Erstansprechpersonen von Kindern und Jugendlichen bei sexuellem Missbrauch. Die Begleitforschung der Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten des Bundes, Dr. Christine Bergmann, zeigt jedoch, dass seitens der angesprochenen Fachpersonen oft nicht adäquat reagiert wurde (Fegert et al. 2013). Eine wichtige Rolle hierfür spielt Unsicherheit. Diese zeigt sich in einer Untersuchung insbesondere in Bezug auf Gespräche mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen sowie den Erziehungsberechtigten, die Informationsweitergabe an andere Institutionen (z.B. Jugendamt, Polizei) und rechtliche Regelungen (Liebhardt et al. 2013).
Online-Kurs: Hintergrund, Aufbau und Didaktik
Vor dem Hintergrund des Fortbildungsbedarfs von Fachkräften der Heilberufe zu Themen des Kinderschutzes fördert das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Zeitraum 06/2015–08/2019 die Entwicklung und Evaluation des Online-Kurses „Kinderschutz in der Medizin — ein Grundkurs für alle Gesundheitsberufe“. Zielgruppe sind Ärzte, approbierte Therapeuten, Pflegekräfte sowie Co-Therapeuten (z.B. Ergotherapeuten). Das Forschungsprojekt wird an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm unter der Leitung von Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert umgesetzt. Die Klinik ist bereits seit zehn Jahren im Bereich webbasierten Wissens-transfers aktiv und hat in dieser Zeit den Arbeitsbereich „Wissenstransfer, Dissemination, E-Learning“ aufgebaut. Ein Fokus ist dabei der Kinderschutz. Dafür wurden verschiedene Online-Kurse zur Prävention von sexuellem Missbrauch, Schutzkonzepte und Traumatisierung entwickelt und evaluiert (Fegert et al. 2017).
Anzeige
Zunächst gab es Zweifel, dass die sensiblen Themen des Kinderschutzes auch online unterrichtet und gelernt werden können. Die AG konnte jedoch im Rahmen der Begleitforschung zeigen, dass E-Learning auch bei diesen Themen gut angenommen wird. Außerdem führen die Kurse zu einem Zuwachs an Wissen, Handlungskompetenzen und emotionalem Lernen in Bezug auf das Thema (König et al. 2015, Hoffmann 2016, König et al. 2018).
Der Online-Kurs hat einen Bearbeitungsumfang von 27 Stunden und besteht aus einem Theorie- und Praxisteil. Die Theorie ist modular aufgebaut und umfasst in fünf Modulen insgesamt 18 Lerneinheiten (Abb.2). Diese enthalten textbasierte Materialien zu Grundlagen und rechtlichen Inhalten. Jede Lerneinheit schließt mit Multiple-Choice-Fragen ab. Alle Texte stehen im E-Book-Format zur Bearbeitung an PC oder Tablet bereit, können jedoch auch als PDF-Dateien heruntergeladen und ausgedruckt werden. Zentral ist die praktische Anwendung beziehungsweise Fallbearbeitung. Hier werden die theoretischen Inhalte in Handlungswissen übertragen.
Abb. 2
Aufbau des Online-Kurses „Kinderschutz in der Medizin — ein Grundkurs für alle Gesundheitsberufe“
Der praxisbezogene Teil des Kurses enthält einen Fallbereich, Filmclips zur Gesprächsführung und weitere (nicht fallbezogene) Übungen — beispielsweise zur Netzwerkbildung im Kinderschutz. Der Fallbereich enthält derzeit insgesamt zehn Fälle und bildet verschiedene Misshandlungsformen bei unterschiedlichen Altersstufen der Kinder ab. Außerdem werden die verschiedenen Berufsgruppen der Heilberufe angesprochen. Mittels der Fallpatienten werden diagnostische und therapeutische Methoden erklärt und geübt sowie Planungen zum weiteren Vorgehen im konkreten Fall erstellt. Jeder Fall hält eine Musterlösung bereit. Diese wurden durch ein interdisziplinäres Team erstellt und sind realen Fällen nachempfunden, die Namen der Personen in den Beispielen sowie die Fallverläufe sind jedoch frei erfunden.
Neben den Fallbeispielen gibt es im Praxisteil auch drei Filmclips zur Gesprächsführung mit Eltern. Im Fokus steht das Ansprechen einer Kindeswohlgefährdung. Passend zu den Inhalten des Clips werden jeweils Hinweise zur Gesprächsführung geben.
Momentan werden für den Praxisanteil weitere Fälle in Form kurzer problemzentrierter Fallschilderungen aufgearbeitet. Die Fälle stammen aus der Beratungstätigkeit der Medizinischen Kinderschutzhotline, einem Forschungs- und Entwicklungsprojekt, das wir in Ulm mit Förderung durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und in Zusammenarbeit mit den DRK Kliniken Berlin-Westend durchführen. Die Kinderschutzhotline ist ein kostenloses telefonisches 24/7 verfügbares Beratungsangebot für alle Fachkräfte aus den Heilberufen.
×
Forschung und Evaluation
Die Erarbeitung des Kurses wurde durch ein Forschungsdesign begleitet. Wissenszuwachs, Handlungs- und emotionale Kompetenzen wurden in zwei Testkohorten vor Beginn und nach Abschluss der Kursbearbeitung erhoben. Außerdem wurden die Teilnehmenden nach Abschluss der Kursbearbeitung zu ihrer Einschätzung der Gestaltung und Handhabung des Kurses, der Nutzerbetreuung und zur Zufriedenheit mit den Lernmaterialien und -inhalten befragt. Personen, die den Kurs nicht abgeschlossen haben, wurden in einem separaten Fragebogen zu den Gründen dafür befragt. Die erste Testkohorte diente hierbei als Pilotgruppe, nach deren Feedback der Kurs in einer Revisionsphase inhaltlich und strukturell überarbeitet wurde. Im Rahmen der zweiten Testkohorte haben wir ein Wartekontrollgruppendesign durchgeführt, um mittels eines Wissenstests den Wissenszuwachs durch die Kursbearbeitung objektiv nachweisen zu können.
In den Testkohorten nahmen 1.036 Personen am Kurs teil, 701 Personen (67,7%) schlossen den Kurs ab. Von den Teilnehmenden gehörten 134 Personen der Berufsgruppe der Pflegenden an, 91 von ihnen beendeten den Kurs (67,9%). Bei 93,4% (n=85) der Absolventen führte die Bearbeitung des Onlinekurses zu mehr Sicherheit im Umgang mit (einem Verdacht auf) Kindesmisshandlung und bei 87,9% (n=80) zu einem Abbau von Ängsten.
Die Lernmaterialien wurden überwiegend positiv evaluiert. 96,7% (n=88) der Pflegekräfte gaben an, dass sich der zeitliche Aufwand für den Kurs für sie gelohnt habe und 94,5% (n=86) halten E-Learning für eine geeignete Form zur Fortbildung zu diesem Thema. Alle Absolventen aus der Pflege würden den Kurs Kollegen weiterempfehlen. 86,8% (n=79) empfinden das Fortbildungsangebot zu Kinderschutz als nicht ausreichend und 82,4% (n=75) beurteilten den Wissensstand unter Fachkräften hierzu als niedrig. Ein Abbruch der Kursbearbeitung erfolgte meist aus zeitlichen Gründen.
Anzeige
Teilnahme und Zertifizierung
Die ursprünglich beantragte Projektlaufzeit endete in 6/2018. Im Rahmen einer Projektverlängerung durch das BMG bis 8/2019 können wir den Kurs ab voraussichtlich Mitte Juli 2018 wieder anbieten. Die Kursteilnahme bleibt kostenfrei. Informationen hierzu befinden sich auf der Internetseite www.grundkurs.elearning-kinderschutz.de.
Pflegekräfte erhalten für die Teilnahme am Kurs 14 Punkte bei der Registrierung beruflich Pflegender.
Springer Pflege Klinik – unser Angebot für die Pflegefachpersonen Ihrer Klinik
Mit dem Angebot Springer Pflege Klinik erhält Ihre Einrichtung Zugang zu allen Zeitschrifteninhalten und Zugriff auf über 50 zertifizierte Fortbildungsmodule.