Hintergrund
Die Beschäftigten in Arbeitsfeldern der Eingliederungshilfe leisten einen wichtigen Beitrag zu beruflicher, schulischer und sozialer Teilhabe von Menschen mit kognitiven und/oder körperlichen Beeinträchtigungen gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention (United Nations,
2006). In Deutschland sind in Einrichtungen des professionellen Hilfesystems für Menschen mit Behinderung, wie Wohn- und Pflegeeinrichtungen oder Tages- und Werkstätten für Menschen mit Behinderung neben Gesundheits- und Pflegekräften insbesondere Fachkräfte der Heilerziehungspflege sowie Professionelle der Heilpädagogik tätig. Menschen mit Behinderung sind gemäß § 2 Absatz 1 des Sozialgesetzbuches (SGB) IX Personen, deren körperlicher oder psychischer Gesundheitszustand voraussichtlich länger als 6 Monate vom typischen Gesundheitszustand des entsprechenden Alters abweicht und deren Teilhabe am Leben und an der Gesellschaft dadurch eingeschränkt ist. Während sich für Deutschland die Datenlage über die Arbeits- und Gesundheitssituation der Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen i. Allg. verbessert hat, liegen bislang nur wenige Erkenntnisgewinne über die berufsspezifischen Arbeitsbedingungen der Heilerziehungspflegenden sowie Heilpädagoginnen und Heilpädagogen vor.
Der internationale Forschungsstand verweist darauf, dass eine Berufstätigkeit in der professionellen Behindertenhilfe mit dem Risiko einhergeht, ein Burn-out zu entwickeln (Couderc et al.,
2023; Devereux et al.
2009; Harries, Ng, Wilson, Kirby & Ford,
2015; Mühler & Hedderich,
2013; Ryan, Bergin & Wells,
2021; Skirrow & Hatton,
2007; Smyth, Healy & Lydon,
2015; Thompson & Rose,
2011). Dieses von Freudenberger (
1974) zum ersten Mal bei Beschäftigten im Bereich der Humandienstleistungen beschriebene Syndrom wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor Kurzem mit der 11. Revision als eigenständige Problematik in Verbindung mit einer Berufstätigkeit in die
International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) eingeführt. Die Definition von Burn-out in der ICD-11 folgt der Konzeption von Maslach und Jackson (
1981), dem zufolge Burn-out durch die drei Dimensionen Erschöpfung, Zynismus und Ineffektivität charakterisiert ist:
„Burnout ist ein Syndrom, das als Folge von chronischem Stress am Arbeitsplatz konzeptualisiert wird, der nicht erfolgreich bewältigt wurde. Es ist durch drei Dimensionen gekennzeichnet:
1) Gefühle der Energieerschöpfung oder Erschöpfung
2) Erhöhte mentale Distanz zur Arbeit oder Gefühle von Negativismus oder Zynismus in Bezug auf die Arbeit
3) Ein Gefühl der Ineffektivität und des Mangels an Leistung“ (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte [BfArM],
2022).
Nach vorliegenden Studien stehen bei Beschäftigten in Settings der professionellen Behindertenhilfe u. a. hohe quantitative sowie wahrgenommene emotionale Anforderungen im Zusammenhang mit emotionaler Erschöpfung und Burn-out (Gray-Stanley & Muramatsu,
2011; Kowalski et al.
2010; Kozak et al.
2013; Roth et al.
2018; Ryan et al.,
2021; Vassos und Nankervis
2012; Vassos, Nankervis, Skerry & Lante,
2017). Hingegen haben erfahrene soziale Unterstützung sowie Feedback am Arbeitsplatz bei Mitarbeitenden in Einrichtungen der Behindertenbetreuung eine protektive Wirkung im Hinblick auf die Entwicklung von emotionaler Erschöpfung und Burn-out (Driller
2008; Gibson et al.
2009; Gray-Stanley & Muramatsu,
2011; Kozak et al.
2013; Mutkins, Brown & Thorsteinsson,
2011; Robertson et al.,
2005; Roth et al.
2018; Vassos und Nankervis
2012; Vassos, Nankervis, Skerry & Lante,
2013,
2017). Einer Studie von Kowalski et al. (
2010) zufolge ist zudem die Wahrnehmung größerer Handlungsspielräume mit einem geringeren Burn-out-Risiko bei Fachkräften in der Behindertenhilfe assoziiert.
Die Befunde zu arbeitsbezogenen Faktoren, die Einfluss auf die Entstehung von Erschöpfungssymptomen bei Berufstätigen in Arbeitsfeldern der Behindertenhilfe nehmen, decken sich mit dem allgemeinen Forschungsstand zur Gesundheit bei Erwerbstätigen. Nach einem internationalen Metaüberblick von Niedhammer, Bertrais und Witt (
2021) wurden in vielen Studien Assoziationen zwischen Burn-out mit quantitativen und emotionalen Arbeitsanforderungen oder sozialer Unterstützung und Handlungsspielräumen am Arbeitsplatz beobachtet.
Die Empirie steht im Einklang mit dem „Job Demands-Resources Model of Burnout and Work Engagement (JD-R)“ (Bakker und Demerouti
2007; Bakker et al.
2014). Dieses Modell steht in der Tradition des „Job-Demand Control Model“ von Karasek (
1979,
2011), welches stressbedingte Krankheitsrisiken und Verhaltenskorrelate von Arbeitsplätzen vorhersagt. Dagegen wird das JD-R-Modell insbesondere angewendet, um Burn-out zu prognostizieren (Demerouti und Nachreiner
2019). Nach Devereux et al. (
2009) sollte dieses relativ gut belegte (Bakker und Demerouti
2017; Lesener et al.
2019) Rahmenkonzept stärker in der Forschung zur Gesundheit bei Beschäftigten in der Eingliederungshilfe berücksichtigt werden.
Dem JD-R-Modell zufolge weist jeder Beruf generell spezifische Risikofaktoren, die mit Arbeitsstress verbunden sind, auf (Bakker und Demerouti
2007; Bakker et al.
2014). Diese Faktoren können laut dem JD-R-Modell in die beiden allgemeinen Kategorien Arbeitsanforderungen und -ressourcen unterteilt werden (Bakker und Demerouti
2007; Bakker et al.
2014). Arbeitsanforderungen sind Merkmale der Arbeit, die eine längere physische oder psychische Anstrengung erfordern, und sind entsprechend mit physischen sowie psychischen Kosten für das Individuum verbunden. Eine andauernde Konfrontation mit hohen Arbeitsanforderungen führt längerfristig zu Erschöpfung (Demerouti und Nachreiner
2019). Beispiele für Arbeitsanforderungen sind eine hohe Arbeitsintensität, eine ungeeignete Arbeitsumgebung (z. B. Lärm) oder hohe emotionale Anforderungen (z. B. Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen) (Demerouti und Nachreiner
2019). Arbeitsressourcen tragen nach Bakker und Demerouti (
2007) hingegen dazu bei, Arbeitsanforderungen und deren negative Auswirkungen zu verringern, und unterstützen die persönliche Entwicklung sowie das Erreichen von arbeitsbezogenen Zielen. Zudem können sie nach dem JD-R-Modell einen Prozess, der zur Steigerung der Motivation und des Arbeitsengagements der Mitarbeitenden führen kann, auslösen. Als Arbeitsressourcen werden soziale Unterstützung, Handlungsspielräume am Arbeitsplatz, Feedback über die erbrachte Leistung oder die für sich selbst erlebte Sinnhaftigkeit der Arbeit angesehen (Demerouti und Nachreiner
2019).
Nach Befunden, die auf Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland beruhen, scheint Burn-out auch bei Heilerziehungspflegenden sowie Heilpädagoginnen und Heilpädagogen in Deutschland ein relevantes Gesundheitsproblem zu sein. So fallen im AOK-Fehlzeitenreport 2023 die Berufe in der Heilerziehungspflege und Sonderpädagogik durch überproportional viele Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund der Zusatzdiagnose Burn-out auf (Meyer et al.
2023). Weiterhin weist der Fehlzeitenreport 2023 bei den Berufen in der Heilerziehungspflege und Sonderpädagogik auf hohe Fehlzeiten im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen hin (Meyer et al.
2023). Daneben ergab eine Analyse der repräsentativen BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 von Mayer und Hollederer (
2024), dass sich Fachkräfte der Heilerziehungspflege und Heilpädagogik in den letzten 12 Monaten häufiger arbeitsunfähig gemeldet haben als die anderen Berufen in Deutschland.
Weitere nationale Forschungsarbeiten geben Einblicke in einzelne Praxisfelder der Heilerziehungspflege und Heilpädagogik. Eine Studie von Driller (
2008) ermittelte bei 175 Mitarbeitenden in Wohnheimen und Werkstätten für Menschen mit Behinderung, dass knapp ein Drittel sich ein- bis mehrmals im Monat emotional erschöpft fühlte. Eine Studie von Kozak et al. (
2013) konnte bei 409 Betreuungskräften in Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen gegenüber anderen Berufen in Deutschland keine erhöhten Burn-out-Werte feststellen.
Laut den Selbstauskünften von 400 Erwerbstätigen in Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung, die im Rahmen der bundesweiten Studie „Betreuung von Menschen mit Behinderung in Deutschland (BMBD)“ befragt wurden, fühlten sich mehr als die Hälfte von diesen durch ihre berufliche Tätigkeit belastet (Habermann-Horstmeier
2016). Auf Basis der Daten der BMBD-Studie konstatieren Habermann-Horstmeier und Limbeck (
2017), dass der Gesundheitszustand von Erwerbstätigen in Betreuungseinrichtungen für Menschen mit Behinderung im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung erheblich schlechter ist. Bei knapp der Hälfte der Befragten (46,1 %) in der BMBD-Studie bestand die Befürchtung, in Zukunft ein Burn-out zu erleiden (Habermann-Horstmeier und Limbeck
2017). Neun Prozent der Betreuungskräfte hatten bereits in der Vergangenheit ein Burn-out (Habermann-Horstmeier und Limbeck
2017).
Eine Befragung von Roth et al. (
2018) von 1912 Mitarbeitenden in Wohnheimen für Menschen mit Behinderung in Deutschland erbrachte, dass sich diese im Vergleich zu Beschäftigten in anderen Arbeitsfeldern häufiger erschöpft fühlen und einen subjektiv schlechteren Gesundheitszustand aufweisen. Den Ergebnissen von Roth et al. (
2018) zufolge sind die quantitativen und emotionalen Anforderungen in der Berufstätigkeit in Wohnheimen für Menschen mit Behinderung im Abgleich zu anderen Berufen signifikant erhöht. Andererseits explorierten Roth et al. (
2018), dass die Beschäftigten in Wohnheimen für Menschen mit Behinderung einen größeren Einfluss auf ihre Arbeit haben, häufiger Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen sowie durch die Führungskraft erhalten und mehr Rückmeldungen zur Qualität ihrer geleisteten Arbeit als andere Erwerbstätige bekommen.
Methode
Die Studie nutzt Daten der „BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 – Arbeit und Beruf im Wandel. Erwerb und Verwertung beruflicher Qualifikationen“ (Hall et al.
2020). Die repräsentative Befragung wurde vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) vom Oktober 2017 bis April 2018 mittels computergestützter telefonischer Interviews (CATI) durchgeführt (Lück et al.
2019). Der Datenzugang erfolgte über einen
Scientific-Use-File des Forschungsdatenzentrums im BIBB.
Die Grundgesamtheit der Repräsentativerhebung bilden Kernerwerbstätige in Deutschland, die mindestens 15 Jahre alt sind und einer bezahlten Arbeit von mindestens 10 h/Woche nachgehen. Die Zufallsstichprobe umfasst 20.012 Erwerbstätige. Für die Hochrechnung enthält der
Scientific-Use-File ein Anpassungsgewicht. Die Referenzstrukturen liefert der Mikrozensus 2017. Die Auswahl der Telefonnummern basiert auf einem Zufallsverfahren (Gabler-Häder-Verfahren), das sicherstellt, dass die Stichprobe repräsentativ angelegt ist. Die Erhebungsmethode ist detailliert bei Rohrbach-Schmidt und Hall (
2020) und die Stichprobe bei Lück et al. (
2019) beschrieben.
Der
Scientific-Use-File der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 beinhaltet ein breites Variablenset in hoher fachlicher Gliederung. Der Survey fokussierte Fragen, die sich auf den Arbeitsplatz beziehen. Aus den Angaben wurde eine beruflich ausdifferenzierte Datenbasis gebildet. Die Erwerbstätigen wurden gefragt, welche konkreten beruflichen Tätigkeiten sie aktuell ausführen. Dadurch konnten die Studienteilnehmenden, die als „Heilerziehungspflegende“ bzw. „Heilpädagoginnen und Heilpädagogen“ tätig waren, in der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 eruiert werden. Die Berufsabgrenzung erfolgte in der vorliegenden Studie auf Grundlage der deutschen „Klassifikation der Berufe 1992“ des Statistisches Bundesamt (
1992). Diese hat den Vorteil, dass sie Heilerziehungspflegende sowie Heilpädagoginnen und Heilpädagogen von 369 Berufen gesondert erfasst, wodurch eine Abgrenzung zu anderen Berufen ermöglicht wurde.
Neben den soziodemografischen Variablen Geschlecht, Alter und berufliche Qualifikation sind in der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 auch arbeitsplatzbezogene Merkmale wie die Arbeitszeit enthalten. Die Erwerbstätigen konnten zudem im Zuge der Erhebung Auskunft darüber geben, wie häufig bestimmte Arbeitsanforderungen während ihrer Arbeitszeit aufgetreten sind (Antwortoptionen: häufig, manchmal, selten, nie). Traten diese häufig auf, wurde die Frage gestellt: „Belastet Sie das?“ (Antwortoptionen: ja/nein). Ferner enthält der Datensatz Items zu Arbeitsressourcen wie Handlungsspielräume, soziale Unterstützung und Bedeutsamkeit der Arbeit.
Zu den erhobenen Gesundheitsvariablen gehören amtlich anerkannte Behinderung und Gesundheitszustand, der über eine Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustands erhoben wurde. Die Frage hierzu lautete: „Wie würden Sie Ihren allgemeinen Gesundheitszustand beschreiben?“ (Antwortoptionen: ausgezeichnet, sehr gut, gut, weniger gut, schlecht). Der subjektiv erfasste allgemeine Gesundheitszustand ist ein zentraler Gesundheitsindikator und wird weltweit häufig in Gesundheitserhebungen verwendet. Er wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Gesundheitsbefragungen empfohlen (de Bruin et al.
1996).
Weiterhin wurden in der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 verschiedene gesundheitliche Beschwerden erkundet. Abgefragt wurden u. a. folgende 6 Symptome der „arbeitsbedingten psychischen Erschöpfung“ (Hasselhorn und Nübling
2004): 1. nächtliche Schlafstörungen; 2. Müdigkeit, Mattigkeit oder Erschöpfung; 3. Magen- oder Verdauungsbeschwerden; 4. Kopfschmerzen; 5. Nervosität oder Reizbarkeit; 6. Niedergeschlagenheit. Daneben wurde eruiert, ob bei den Befragten in den letzten 12 Monaten häufig eine „körperliche Erschöpfung“ oder „emotionale Erschöpfung“ vorlag.
Zudem wurden die Verbreitung und die Inanspruchnahme der betrieblichen Gesundheitsförderung erfasst. Die Erwerbstätigen wurden dazu gefragt, ob in ihrem Betrieb in den letzten 2 Jahren Maßnahmen der Gesundheitsförderung durchgeführt wurden. Unter Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung wurden Bewegungsprogramme, Ernährungsberatung, Stressmanagement oder Gesundheitszirkel verstanden. Wurden diese mit ja beantwortet, schloss sich die Frage an: „Haben Sie daran teilgenommen? (Ja/nein)“.
Der Forschungsansatz verwendet für diese Sekundärdatenanalyse die Methoden der deskriptiven Statistik und Korrelationsanalytik. Für die Testung von Unterschiedshypothesen wurden Chi-Quadrat-Tests nach Pearson durchgeführt. Ein p-Wert von weniger als 0,05 wurde verwendet, um einen statistisch signifikanten Zusammenhang festzustellen. Die Analysen wurden mit IBM/SPSS-Statistics 29 durchgeführt.
Limitationen
Bei der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 handelt es sich um eine repräsentative Erhebung mit einer großen Stichprobe von 20.012 Erwerbstätigen. Die hier vorgestellte Sekundäranalyse liefert daher repräsentative Ergebnisse für die Berufsgruppe Heilerziehungspflege/Heilpädagogik. Zudem waren auf Grundlage der Daten der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 Vergleiche mit anderen Berufen möglich. Im Gegensatz zu vorherigen Studien ist die vorliegende Forschungsarbeit nicht auf ausgewählte Arbeitsfelder von Heilerziehungspflegenden und Professionellen der Heilpädagogik begrenzt. Durch die umfassende Erhebung von Arbeitsanforderungen und -ressourcen sowie gesundheitlichen Beschwerden im Zuge der BIBB/BAuA Erwerbstätigenbefragung 2018 können prinzipiell Zusammenhänge gut untersucht werden.
Im Hinblick auf die in dieser Studie fokussierten Berufe bestehen aber methodische Einschränkungen. Die Berufsgruppe Heilerziehungspflege/Heilpädagogik ist in Deutschland eine relativ kleine und daher auch in der repräsentativen BIBB/BAuA-Erhebung 2018. Die Fallzahl von 130 befragten Heilerziehungspflegenden und Professionellen der Heilpädagogik schränkte die Möglichkeiten in der Sekundäranalyse erheblich ein. Es wäre wünschenswert gewesen, die Ergebnisse nach Geschlecht, Alter und Bildung zu stratifizieren; insbesondere zum allgemeinen Gesundheitszustand und zu den gesundheitlichen Beschwerden. Multivariate Analysen führten jedoch zu kleinen Zellen und statistischen Unschärfen. Je kleiner die Fallzahlen, desto statistisch unsicherer werden die hochgerechneten Ergebnisse. Bei den Vergleichsanalysen ist daher zu beachten, dass die Unterschiede bei Frauenanteil, Durchschnittsalter und Bildungsstand die Gesundheitsergebnisse zu einem gewissen Grad konfundieren und bei kleinen Fallzahlen vorsichtig zu interpretieren sind.
Die standardisierten Fragen zu den Arbeitsbedingungen eruierten bevorzugt die Häufigkeit von Ereignissen in der beruflichen Tätigkeit bei den Antwortoptionen. Es ist aber kritisch anzumerken, dass die Antwortoption „häufig“ in den Ausfüllhinweisen nicht weiter quantifiziert wurde. Das könnte methodisch zu Unschärfen führen, die jedoch bei den hier angestellten Gruppenvergleichen zwischen den Berufen gleichermaßen zutreffen dürften und damit nur die Randverteilungen der Items tangieren.
Überdies wurde die BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung konzipiert als Querschnittsbefragung, die im Abstand von 5 bis 6 Jahren regelmäßig wiederholt wird. Es können deshalb aus den statistisch signifikanten Assoziationen nicht ohne Weiteres kausale Beziehungen abgeleitet werden.
Diskussion der Ergebnisse
Die Studienergebnisse weisen bei der Berufsgruppe Heilerziehungspflege/Heilpädagogik auf einen hohen Bedarf an Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sowie der betrieblichen Gesundheitsförderung hin. Nach den Selbstauskünften beurteilen nur rund 21 % der Fachkräfte der Heilerziehungspflege und Professionellen der Heilpädagogik ihren Gesundheitszustand als ausgezeichnet oder sehr gut.
Darüber hinaus treten nach den Auswertungen Erschöpfung und psychosomatische gesundheitliche Beschwerden bei der Berufsgruppe Heilerziehungspflege/Heilpädagogik überproportional häufig auf. Alarmierend ist der Prozentsatz von 62,1 % der Heilerziehungspflegenden sowie Heilpädagoginnen und Heilpädagogen mit häufiger allgemeiner Müdigkeit, Mattigkeit oder Erschöpfung in den letzten 12 Monaten. Des Weiteren klagte rund ein Drittel der Heilerziehungspflegenden und Professionellen der Heilpädagogik über häufige körperliche und emotionale Erschöpfung. Dieser Wert ist fast doppelt so hoch wie in den anderen Berufen. Sie sind deshalb gefährdet, an einem Burn-out zu leiden (Shoman et al.
2021). Das ist konsistent zur Studienlage, nach der eine Erwerbstätigkeit in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung in Deutschland mit dem Risiko des „Ausbrennens“ einhergeht (Driller
2008; Habermann-Horstmeier und Limbeck
2017; Meyer et al.
2023; Roth et al.
2018). Der Anteil liegt auch höher als in den Berufen der Sozialen Arbeit (Hollederer
2022,
2023). Vor dem Hintergrund der Ergebnisse und des Forschungsstands sind mehr Angebote zur Burn-out-Prävention in Arbeitsfeldern der Heilerziehungspflege/Heilpädagogik angezeigt.
Die Arbeitswelt ist komplex, und jeder Beruf weist spezifische Anforderungen und Ressourcen auf (Demerouti und Nachreiner
2019). Das JD-R-Modell kann in der Praxis zur Optimierung von Arbeitsanforderungen und zur Erhöhung von Arbeitsressourcen genutzt werden (Bakker et al.
2014). Nach diesem Rahmenkonzept sind Arbeitsanforderungen i. Allg. die wichtigsten Prädiktoren für Erschöpfung und psychosomatische Gesundheitsbeschwerden am Arbeitsplatz (Bakker et al.
2014). Gemäß dem empirisch belegten „Challenge-Hindrance Stress Model“ (Crawford et al.
2010; Horan et al.
2020; Van den Broeck et al.
2010) gehen nicht alle Arbeitsanforderungen bei Beschäftigten mit Stressreaktionen und negativen Konsequenzen für die Gesundheit einher, sondern können auch zu deren Motivation und Arbeitsengagement beitragen. Deshalb wurden die Erwerbstätigen in der BIBB/BAuA-Erhebung 2018 auch gefragt, ob sie die jeweilige Arbeitsanforderung belastet.
Den Analysen zufolge empfinden Heilerziehungspflegende sowie Heilpädagoginnen und Heilpädagogen v. a. Arbeitsbedingungen im Bereich der Arbeitsintensität, wie ständige Arbeitsstörungen, einen häufigen Termin‑/Leistungsdruck oder oft bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit gehen zu müssen, als belastend. Die Arbeitsintensität sollte daher bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen in Bereichen der Heilerziehungspflege/Heilpädagogik berücksichtigt werden. Mit der nach § 5 des Arbeitsschutzgesetzes verpflichtenden Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung liegt zudem ein Instrument vor, in dem auch die Arbeitsintensität hinsichtlich einer möglichen Gesundheitsgefährdung der Beschäftigten analysiert werden muss (Ahlers
2015; Aich
2020). Entsprechend sollte diese flächendeckend bei Fachkräften der Heilerziehungspflege und Heilpädagogik in Deutschland vollzogen werden.
Weiterhin zeigen die Daten, dass die Berufsgruppe Heilerziehungspflege/Heilpädagogik wesentlich stärker mit emotional belastenden Situationen konfrontiert wird als andere Berufe. Eine Studie von Roth et al. (
2018) kam zu vergleichbaren Befunden. Zur Reduktion von emotionalen Anforderungen könnten verhältnispräventive Interventionen zur Arbeitsplatzgestaltung und zum Aufgabenzuschnitt beitragen. Außerdem werden zur Verringerung von emotionalen Beanspruchungen bei Fachkräften der Heilerziehungspflege und Heilpädagogik regelmäßige Supervisionen empfohlen. Denn diese ermöglichen kollegialen Austausch und können dazu beitragen, den Umgang mit emotional belastenden Situationen zu erleichtern (Schütte und Petersen
2023; Sines und McNally
2007; Wittich
2015).
Arbeitsressourcen sind nach dem JD-R-Modell, jene physischen, psychologischen, sozialen oder organisatorischen Aspekte der Arbeit, die für das Erreichen von Arbeitszielen funktional sind, Arbeitsanforderungen reduzieren und persönliches Wachstum fördern (Bakker und Demerouti
2007). In den Bereichen soziale Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen sowie Sinnhaftigkeit der Arbeit legen die Auswertungen keinen großen Gestaltungsbedarf bei Heilerziehungspflegenden sowie Heilpädagoginnen und Heilpädagogen offen. Hingegen deuten die Ergebnisse darauf hin, dass im Hinblick auf eine „gesundheitsförderliche Führung“ (Franke et al.
2015) in der Praxis von Fachkräften der Heilerziehungspflege und Professionellen der Heilpädagogik Potenzial besteht; insbesondere vor dem Hintergrund des in Studien nachgewiesenen Zusammenhangs zwischen dem Führungsverhalten und Burn-out bei Mitarbeitenden in der Behindertenhilfe (Driller
2008; Gibson et al.
2009; Kozak et al.
2013; Vassos und Nankervis
2012).
Im Bereich der Handlungsspielräume offenbaren die Analysen ein heterogenes Bild bei Fachkräften der Heilerziehungspflege und Heilpädagogik. Ein Großteil hatte zwar häufig die Möglichkeit, die Arbeit selbst planen und einteilen zu können, jedoch konnten weniger als die Hälfte oft Einfluss auf die ihnen zugewiesene Arbeitsmenge nehmen und über den Zeitpunkt ihrer Pause entscheiden. Vor dem Hintergrund, dass Handlungsspielräume als zentrale Ressource für situatives und informelles Arbeitshandeln diskutiert werden (Böhle et al.
2015), sollten diese in der praktischen Tätigkeit der Heilerziehungspflegenden und Professionellen der Heilpädagogik erweitert werden. Zudem zeigte sich empirisch, dass größere Handlungsspielräume mit einem geringeren Burn-out-Risiko bei Fachkräften in der Behindertenhilfe einhergehen (Kowalski et al.
2010).
Abschließend ist nach den Ergebnissen ein Ausbau der betrieblichen Gesundheitsförderung in Deutschland (Hollederer
2021), aber auch bei der Berufsgruppe Heilerziehungspflege/Heilpädagogik angezeigt. Dem internationalen Forschungsstand zufolge kann betriebliche Gesundheitsförderung die Gesundheit von Beschäftigten nachweislich verbessern und krankheitsbedingte Fehlzeiten verringern (Basińska-Zych und Springer
2021; Tarro et al.
2020).
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